»Als Kellner lebst du vom Trinkgeld«

Die Coronakrise trifft Gastronomen und deren Angestellte besonders hart. Für die Kellnerin Melina Tobisch gibt es trotzdem kaum einen besseren Job – obwohl sie dabei sogar schon mit dem Tod konfrontiert wurde.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Wegen der Ausgangsbeschränkungen hat das Wirtshaus, in dem Sie arbeiten, geschlossen. Wie war der letzte Abend?
Melina Tobisch (33): Es herrschte eine Stimmung, als ob morgen die Welt untergehen würde. Der Gastraum war ziemlich voll, die Gäste standen vor dem Tresen in Zweierreihen und bestellten viel mehr Schnaps als sonst. Ich hörte Sprüche wie: »Ach lass uns noch mal was trinken, bevor wir uns alle nicht mehr wiedersehen.«

Hatte niemand Angst, sich anzustecken?
Nein. Die Gäste kamen weiterhin in ihre Stammkneipe, bis wir schließen mussten. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass in den Tagen zuvor der Umsatz eingebrochen wäre. Ein paar ältere Herrschaften blieben zuhause, dafür kamen andere, die sich vor den Ausgangsbeschränkungen noch mal was gönnen wollten. Zurzeit können die Gäste das Essen nur noch abholen, an manchen Tagen machen wir damit sogar mehr Mittagsumsatz als sonst. Unser Wirt kann das gut gebrauchen, seitdem das Abendgeschäft komplett fehlt. Die Gäste, die es sich leisten können, kaufen Essen, um das Wirtshaus zu unterstützen. Darunter sind viele Handwerker, Messebauer und andere Freiberufler, denen jetzt selbst die Aufträge fehlen. Kellner braucht mein Chef zurzeit auch nicht. Wir sind alle freigestellt.

Wie hart trifft Sie das finanziell?
Ich bin dort als Aushilfe auf 450 Euro-Basis angestellt und habe noch eine andere Arbeit. Mit dem Kellner-Job finanziere ich mir meinen Urlaub, Essengehen, alles, was Spaß macht. Das heißt: Ich kann trotzdem überleben. Aber ich weiß, dass es für Vollzeit-Kellner gerade brutal ist. Als Kurzarbeitergeld bekommen sie 60 Prozent ihres Stundenlohns, aber der ist so schlecht, dass Kellner davon alleine ihre Miete in München kaum bezahlen können. Sie leben vom Trinkgeld. Das macht bei vielen ungefähr die Hälfte des Lohns aus, und das fällt jetzt komplett weg.

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Überlegen Sie, sich nach der Krise einen anderen Job zu suchen? Vielleicht einen mit weniger direktem Menschenkontakt?
Nein, ich will danach auf jeden Fall wieder in dem Wirtshaus arbeiten. Mir fehlt das jetzt schon. Kellnern ist nicht nur ein Job, den man einfach so machen kann, weil man gerade nichts anderes findet. Es ist eine Lebenseinstellung. Nirgendwo kann man die Menschen besser beobachten und mehr über sie lernen als in einer Kneipe.

Bedeutender als die Coronakrise war für Sie persönlich aber eine andere Zeit. Erzählen Sie davon.
Mit 18 fing ich im »Schabernack« in Krailling an zu arbeiten, einer Musikkneipe in einem Vorort von München. Viele Gäste nannten es ihr Wohnzimmer, dort lagen Unmengen alter Schallplatten, es gab eine Bühne, die Fenster waren abgehangen, hinten stand ein Billardtisch und an der Wand prangte ein Bild von Tina Turner. Ungefähr zehn Jahre lang arbeitete ich immer wieder dort. Wie wichtig diese Zeit war, verstand ich aber erst, als ich im Januar auf der Beerdigung meines ehemaligen Chefs Klaus Paulus in der Aussegnungshalle saß und seinem Sohn bei der Trauerrede zuhörte.

Inwiefern?
Der Sohn sagte, dass der Vater in seinem Leben alles mit Liebe gemacht und auch ihm das so beigebracht habe. In diesem Moment begriff ich, dass Klaus Paulus nicht nur seinen Sohn, sondern auch mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin. Dabei war immer klar: Er war mein Chef und Vertrauter, kein Freund im klassischen Sinn. Doch er hat mich geprägt wie kaum ein anderer Mensch.

»Viele der Gäste sind alleine, haben keine Familie oder sind geschieden. In solchen Lokalen haben sie eine Gemeinschaft, und die gibt ihnen Halt«

Wie hat er das geschafft?
Ich komme aus keiner Vorzeigefamilie und war ziemlich auf mich allein gestellt. Als ich Klaus fragte, ob ich für ihn arbeiten könne, ging ich noch zur Schule, war schüchtern und hatte keine Erfahrung in der Gastronomie. Ich dachte nicht, dass er mich anstellen würde. Aber er nahm mich auf und brachte mir alles bei, was man als Kellner und im Leben wissen muss. Er war eine Art Mentor für mich. Und ich glaube, dass es in dieser Kneipe vielen Menschen so erging. Jeder durfte so sein, wie er war. Und jeder bekam eine Chance. Neben mir stellte Klaus zum Beispiel einen seiner Mieter ein, dabei war der eine Katastrophe – trank viel, verschlief Termine, zahlte die Miete nicht pünktlich. Aber Klaus gab ihm einen Vertrauensvorschuss und am Ende wurde aus ihm der beliebteste Barmann überhaupt. So wächst man als ungleiche Familie zusammen. Auch deshalb trifft die aktuelle Krise uns in der Gastronomie alle so hart: Es geht nicht nur ums Geld.

Das »Schabernack« erlangte vor rund zehn Jahren Bekanntheit, weil die beiden Töchter der Freundin von Klaus Paulus ermordet worden waren – und zwar von deren Onkel. Die Mädchen waren damals acht und elf Jahre alt und lebten nur ein paar hundert Meter von der Kneipe entfernt. 
Natürlich waren wir alle fassungslos. Am Anfang wussten wir nicht, wer es war, und versuchten uns das, was passiert war, irgendwie zu erklären. Gleichzeitig gab es viele Momente des Schweigens. Aber zumindest waren wir nicht alleine. Und obwohl später nicht alle ständig getrauert haben, war es nie mehr so unbeschwert wie zuvor. Manche Gäste wollten gar nicht mehr kommen, weil sie abgeschreckt waren oder um nicht zu stören. Freunde haben dann versucht, Menschen zu mobilisieren, damit Klaus Paulus und seine Freundin nicht auch noch einen finanziellen Schaden haben. Wir schafften es, dass am Ende tatsächlich nicht weniger Gäste kamen. Aber natürlich kann man noch so einer Tat nicht unverändert weitermachen.

Wie hat Sie diese Tat persönlich verändert?
Die Mädchen spielten im Sommer jeden Tag im Biergarten, machten Modenschauen, trafen Freunde dort. Der Gedanke, wie jemand zwei so unschuldige Menschen grundlos töten kann, zerriss mir das Herz. Seitdem zweifle ich mehr, ob das, was mir die Leute erzählen, wirklich stimmt. Vielleicht habe ich mehr Feingefühl dafür entwickelt, wer authentisch ist. Ganz sicher lernte ich dadurch aber, wie wichtig eine Kneipe sein kann. Viele der Gäste sind alleine, haben keine Familie oder sind geschieden. In solchen Lokalen haben sie eine Gemeinschaft, und die gibt ihnen Halt. Jetzt in der Coronakrise muss auf solche sozialen Kontakte verzichten. Das ist sicher für viele hart.

Das »Schabernack« gibt es nicht mehr, es wurde vor ein paar Jahren abgerissen. Wie war das für Sie?
Traurig. In dem Haus hatte ich ganze Sommer verbracht, Feste gefeiert, gearbeitet, bis mir die Füße wehtaten, und Menschen kennengelernt, die ich woanders nie getroffen hätte. Einen Zeitungsfahrer, der früher beim Zirkus war und mir das Tangotanzen beibrachte. Einen Englischlehrer, der mir zeigte, dass es ein Geschenk sein kann, wenn einem jemand einen Termin absagt, weil man dann mehr Zeit für andere Dinge hat. Sogar meine jetzige Wohnung bekam ich durch die Arbeit.