Dass der 3. Oktober zum deutschen Nationalfeiertag erkoren wurde, ist nichts weiter als ein Zufall der Geschichte. Ende August 1990 beschloss die Volkskammer mit großer Mehrheit den Beitritt der DDR zum »Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland«. Am 12. September unterschrieben die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges plus die beiden deutschen Staaten den Vertrag zur Wiedervereinigung. Auf einer Konferenz in New York, die am 1. Oktober begann, erklärten die vier Siegermächte formell die »Suspendierung« ihrer Vorrechte. Damit war der 3. Oktober 1990 der frühestmögliche Einheitstermin.
Der 8. Mai wäre als nationaler Gedenktag mindestens ebenso geeignet gewesen. An diesem geschichtsträchtigen Datum, 1945 nach der Kapitulation, war ein Volk, das den Nazis fast einheitlich zugejubelt hatte, von den Verbrechern befreit worden. Obwohl in der DDR nur der Russen als Befreier gedacht wurde und nicht der Westalliierten, wäre der 8. Mai im vereinten Deutschland eine historische Wiedervereinigung gewesen im Gedenken an die gemeinsame Geschichte. Für tieferes Nachdenken, wann ein gemeinsamer Tag der deutschen Einheit sinnvollerweise stattfinden sollte, blieb aber keine Zeit, weil Ostdeutschland bereits im Sommer 1990 ein wirtschaftlicher Kollaps drohte. Im Rückblick auf die real dahinvegetierende DDR, die totenbleich im Koma lag – verrottete Infrastruktur, verdeckte Arbeitslosigkeit, vergiftete Umwelt –, ist das seit der Einheit Erreichte zweifellos beispielhaft. Aber was beim Aufbau Ost auf der Strecke blieb, ist der von reaktionären linken und rechten Ostalgikern verklärte besondere Volkscharakter Ost. Der basiert vorgeblich auf so edlen Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Genügsamkeit, Mitmenschlichkeit, Hilfsbereitschaft. Was die Wessis abschätzig als spießigen Zonenmief bezeichnen, erscheint vielen Ossis rückblickend als Nischenglück.
Der aus Sachsen stammende Theologe und Philosoph Richard Schröder war einst SPD-Fraktionschef in der letzten Volkskammer. Er kann mit einer Anekdote aus der eigenen Familie verdeutlichen, warum Heimweh nach Mief größer sein kann als die Sehnsucht nach einem fernen Horizont voll ungewisser Freiheit: »Mein Großvater hat sich in seiner Heimatstadt einst im Wohnungsbau für kinderreiche Familien engagiert und dafür gesorgt, dass die vier, fünf Zimmer bekamen. Als er seine Schützlinge nach einiger Zeit besuchte, saßen die alle wieder eng beieinander in der Wohnküche. Verblüfft fragte er, warum sie denn in diesem einen Raum säßen und nicht die anderen benutzten. Da gaben sie ihm zur Antwort: So ist es gemütlicher. Wir haben ein Zimmer vermietet.«
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Real existierende Unterschiede zwischen Ost und West sind, trotz aller sichtbaren Fortschritte, auch 18 Jahre nach dem D-Day unübersehbar. Die Arbeitslosigkeit ist in den neuen Bundesländern durchschnittlich doppelt so hoch wie im Westen. Vom Volk gewählte Vertreter der NPD und DVU grölen in den Parlamenten von Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, aber außer einem einzelnen Braunen in der Bremer Bürgerschaft sind westdeutsche Landtage nazifreie Zonen. Die Neonazis drüben haben sich unter Anleitung fürsorglicher Westkader als nette Nachbarn von rechts in die Mitte der Gesellschaft eingeschlichen.
Wie es um die innere Einheit der Nation steht, die jedes Jahr am nun mal vorgegebenen Nationalfeiertag von Politikern beschworen wird, muss jenseits von Statistiken ergründet werden.
Gründelnd nach nationaler Identität sind den Deutschen ihre Toten näher. Dass überall in Deutschland selbstverständlich ein Denkmal steht für die Gefallenen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, aber fast zwanzig Jahre nach der ersten geglückten und zudem unblutigen deutschen Revolution noch keines für die Helden des Umbruchs, dürfte also kein Zufall sein. Ein Denkmal für alle Namenlosen, die unter dem Ruf »Wir sind das Volk« mutig die Bankrotteure zum Teufel jagten, müsste nicht nur in Berlin zu finden sein. Sondern an allen Orten, wo das Volk den Schritt von der »Ohnmacht in die Macht« (Joachim Gauck) wagte. Wenn schon Oktober, wäre ein Gedenktag an die friedliche Oktoberrevolution 1989 passend. Der 9. Oktober etwa, als in der Heldenstadt Leipzig Hunderttausende auf die Straße gingen und die Machthaber begriffen, dass dagegen auch keine Peking-Lösung, also Panzer, mehr helfen würde.
Statt mit Stolz auf das Vollbrachte den Westdeutschen auf Augenhöhe entgegenzutreten, akzeptierten zu viele Ostler, dass die Westler ihren Sieg frech für sich reklamierten. Besserwessis angeberische Botschaft lautete, das bessere System habe sich als siegreich erwiesen. Als Vertreter des Besseren seien sie die wahren Sieger. Seine ostdeutschen Landsleute, glaubt Hans- Joachim Maaz, Psychiater und Psychoanalytiker aus Halle, leiden nicht nur an den normalen psychischen Spätfolgen einer Diktatur, wie man sie schon einmal in der deutschen Geschichte nach den zwölf Jahren des Dritten Reiches hatte diagnostizieren können — und die SED-Herrschaft dauerte sogar vierzig Jahre! Es mangelt ihnen an Selbstbewusstsein. »So schlimm es war mit der Stasi, man wusste mit den Typen umzugehen und hatte gelernt, seine wahre Meinung vor denen zu verbergen. Die heute verbreitete Angst vor dem Jobverlust dagegen ist existenziell.« Die Folgen dieser Angst sind messbar in der wachsenden Zahl von Nichtwählern, die der Demokratie, die sie ersehnten, nun grundsätzlich misstrauen.
Nach dem Fall der Mauer wurde den Siegern innerhalb weniger Monate der Sieg gestohlen. Fassungslos erleben zu müssen, wie die Westdeutschen ihnen die Revolution raubten, war die erste große Enttäuschung für die Volksseele Ost. Aus geplatzten Illusionen erwuchs die zweite Enttäuschung: Die aufmüpfigen Bürgerrechtler stellten sich ein kleines, ökologisch sauberes Paradies auf dem Boden der ehemaligen DDR vor; das Paradies war aber nicht finanzierbar. Intellektuelle wollten es gar noch einmal mit dem Sozialismus versuchen, der an sich ja eine gute Idee sei, nur eben in der DDR schlecht umgesetzt. In Zukunft, so die kluge Christa Wolf im November 1989, müsse am Nationalfeiertag die Führung aber am Volk vorbeiziehen – nicht umgekehrt das Volk an der Führung –, auf dass dieses die Daumen senken oder recken könne.
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Und drittens? Erschöpft vom Aufstand wehrten sich die Aufständischen nicht gegen die freundliche Übernahme. Sie hatten ja selbst bereits begonnen, ihren gerade bewiesenen Mut zu verdrängen: Nur wegen der unerträglich gewordenen Zustände im Arbeiter- und Bauernparadies hatten sie doch keine andere Wahl gesehen, als sich gegen die Obrigkeiten zu wehren. Dies ging nicht ohne eine Revolution. Sie konnten ja nicht einfach alle abhauen aus der DDR, logisch. Und weil sie nicht weg konnten, musste die DDR weg, auch logisch. Nachdem dies erreicht war, sollte aber bitte wieder Ruhe einkehren. Deshalb, sagt der einst von der Stasi als Staatsfeind verfolgte CDU-Politiker Rainer Eppelmann, »ist der Ossi nicht stolz darauf, dabei gewesen zu sein«.
Weil sich viele Ostdeutsche angesichts aktueller Probleme nicht mehr erinnern wollen, welchen viel finstereren Zeiten sie entronnen sind, werden sie von Westdeutschen daran erinnert, sobald sie beklagen, an der Einheit innerlich zerbrochen zu sein. Die Diagnose lautet etwa so: depressive Resignation, weil es keine Wiedergutmachung gibt für gescheiterte Lebenspläne; ohnmächtige Wut über den Verrat ihrer Ideale durch sozialistische Menschheitsbeglücker; tiefe Minderwertigkeitsgefühle wegen der Abhängigkeit vom Wohlwollen der anderen Deutschen. Bei dieser Gemengelage von Symptomen hilft kein Psychiater. Also retten sich viele Ostdeutsche selbst und verklären ihre Vergangenheit, denn die kann ihnen von den selbst ernannten Siegern nicht auch noch genommen werden.
Das alles mündet in dem generellen Vorwurf Ost: Ihr im Westen habt euch nie für unsere Biografien interessiert. »Wenn mir meine Welt immer wieder von Wessis erklärt wird, bin ich automatisch mehr als je zuvor ein überzeugter Ossi«, sagt der Psychiater Maaz. Die Vergangenheit der Ossis interessiert die meisten Wessis tatsächlich nicht. Viele setzen das verrottete politische und wirtschaftliche System der DDR mit dem Verhalten der Menschen gleich, die da lebten, so als hätten diese in dem von oben bestimmten unten kein selbst bestimmtes Leben gekannt – Liebe, Geburten, Freunde, Familie.
»Die drüben«, sagt die SPD-Ikone Egon Bahr, »haben bis heute das Gefühl, von uns im Westen nicht richtig anerkannt zu sein.« Zwar hätte die Regierung Kohl/Genscher den außenpolitischen Teil nach dem Umbruch 1989 kaum besser managen können. Das wichtigste Ziel jedoch, die innere Einheit, haben »wir nicht erreicht«, weil es »nicht gelungen ist, die Menschen im Osten mit ihrem Stolz darauf, die erste unblutige deutsche Revolution geschafft zu haben, ins gesamte Deutschland einzubringen und zu würdigen«.
Es ging ja nie um die Vereinigung als solche, die wollten fast alle. Es geht darum, wie die Einheit vollzogen wurde. Gregor Gysi, der Star der neuen und der alten Linken, versucht es mit einem Gleichnis: »Falls eine reiche Tante und ein armer Neffe zusammenziehen und die Tante sagt, in meiner Wohnung ist noch ein Zimmer frei, da kannst du bleiben, aber gefrühstückt wird jeden Tag um sieben Uhr und gelebt wird nach meinen festen Regeln, muss sich der Neffe unterordnen. Das prägt. Wenn aber Tante und Neffe zusammen eine andere Wohnung bezogen hätten, selbst wenn der eine erst einmal die Miete bezahlt, hätten sie die gemeinsam neu einrichten müssen.«
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Besser hätte man sich, übertragen vom Sinnbildlichen auf die Einheit, gemeinsam die Strukturen der alten Bundesrepublik und der verschwundenen DDR angeschaut und sich dann geeinigt: Achtzig Prozent nehmen wir von uns, den Westlern, zehn Prozent von euch, zehn Prozent machen wir gemeinsam neu. Dann hätte sogar der verbittert seine Solidarbeiträge zahlende Westdeutsche das Gefühl gehabt, durch die Einheit etwas gewonnen zu haben, statt immer nur für die Ossis zu zahlen, die ohnehin nur nörgeln. Und im Osten hätte es das Selbstbewusstsein gestärkt.
Einmal in den wilden Tagen seiner kurzen Amtszeit als Ministerpräsident, als der heute vom Nikotin befreite Jurist noch kettenrauchend Akten in sich hineinfraß, hat Lothar de Maizière den spanischen Botschafter in Ostberlin etwas gefragt: wie die Spanier es geschafft hätten, dass nach dem Sturz des Diktators Franco kein Bürgerkrieg zwischen Demokraten und Franco-Anhängern ausgebrochen sei. »Durch eine Generalamnestie«, hat der geantwortet, eine Amnestie für Mitläufer des Faschistenregimes. Das war ein weiser Akt der Versöhnung, so wie einst Adenauer in politischer Weisheit ermöglicht habe, die vielen kleinen Nazis, die ja auch nicht alle über Nacht zu Demokraten geworden waren, in die Bundesrepublik zu integrieren. Verfolgt wurden in Spanien nur Mörder und Folterer. »Aber wir sind Katholiken«, habe Seine Exzellenz hinzugefügt, »ihr deutschen Protestanten werdet bestimmt rigoros alles aufarbeiten, bei euch wird das nicht klappen.« Der Mann behielt recht, so geschah es. De Maizière: »In der Tat, eine Amnestie außer für Mord und Folter, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wäre wichtig gewesen, um Rechtsfrieden zu schaffen.« Dass es Gerechtigkeit nur im Jenseits gibt, weiß der Jurist ja nicht erst seit 1990, seit es den Nationalfeiertag am 3. Oktober gibt.
Warum eigentlich nicht der 9. November? Der 9. November wäre eine gute Alternative gewesen, der Tag, an dem 1989 die Mauer fiel, der Tag der nicht größenwahnsinnigen, sondern großen deutschen Gefühle und seliger gemeinsamer Erinnerungen. Dagegen erhob sich anschwellender Bocksgesang. Denn am 9. November waren Hitler und Ludendorff mit ihrem Putsch gescheitert (1923) und hatten Nazibanditen, unterstützt vom gemeinen Volk, in der Pogromnacht die Synagogen ihrer deutschen Mitbürger jüdischen Glaubens in Brand gesteckt (1938).
Gerade deshalb wäre der 9. November das ideale Datum für einen Nationalfeiertag. Denn die deutsche Geschichte ist unteilbar – so wie das Land, das sich zu ihr bekennt.
Fotos: ddp, Reuters