Der Anruf kam ohne Ankündigung, wie in einem Thriller: Eine Vertreterin der Regierung meldete sich, man müsse reden. Das war Anfang der Achtzigerjahre, Ronald Reagan hatte gerade die Macht übernommen. Thomas Sebeok, Professor für Semiotik an der Universität von Indiana, in Fachkreisen berühmt für seine Forschung über Symbole und Zeichen, fragte sich, was die Regierung von einem Wissenschaftler wie ihm wollte. Die Frau am anderen Ende der Leitung erklärte, es gehe um Abfall. Radioaktiven Abfall. Sebeok erwiderte, davon habe er keine Ahnung. Aber er sei doch Zeichentheoretiker, fragte die Anruferin. Sebeok bejahte. Dann solle er schleunigst bei der Regierung vorsprechen. Man wolle von ihm wissen, wie man vor Atommüll warnt, sodass es auch spätere Generationen noch verstehen – in Hunderten, Tausenden, ja sogar Zehntausenden Jahren.
Heute, ein Jahr nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima und Deutschlands Ausstieg aus der Kernenergie, beschäftigt diese Frage wieder die Experten: Wie geht man mit den Hinterlassenschaften der Atomenergie um, deren Halbwertszeiten schon die Dimension der menschlichen Vorstellungskraft sprengen? Dass diese Frage nicht allein technischer, sondern auch philosophischer Natur ist, zeigte der Semiotiker Thomas Sebeok bereits lange vor Fukushima.
Als sich der Professor zu ersten Gesprächen mit einer in San Francisco einberufenen Regierungskommission einfand, erwartete ihn ein zwölfköpfiger Expertenstab, darunter Verhaltensforscher, Soziologen und Rechtsanwälte. Mitarbeiter von Ronald Reagan hatten diesen Zirkel aufgeboten, weil sie sich über die steigende Menge nuklearer Abfälle aus Atomkraftwerken in den USA sorgten: Wohin damit? Und wenn das Zeug untergebracht ist – wie davor warnen?
Radioaktive Strahlung ist nicht sichtbar, man kann sie nicht hören, schmecken oder fühlen. Sie ist so unfassbar wie die Zeit, die sie überdauert: Das Isotop Plutonium-239 etwa, das in Reaktoren häufig produziert wird, strahlt mehr als 24 000 Jahre, bis es den Punkt erreicht, an dem die Hälfte seiner Atomkerne zerfallen sind. Plutonium-242 hat eine Halbwertszeit von 375 000 Jahren. Jod-129 eine von 16 Millionen Jahren. Alle drei Stoffe sind in Atommüll enthalten. Alle drei Stoffe schädigen Leib und Leben.
Aufgabe von Sebeok und seinem Expertenstab war es, ein Warnsystem zu entwickeln, das noch in ferner Zukunft über die Lage und die Gefahren von Atommüll informiert. Der Professor zögerte. Jahre später schilderte er in der Fernsehdokumentation Countdown für die Ewigkeit seine Zweifel: »Ich fragte: Wie weit voraus sollen wir denn denken? Die Antwort aus Washington lautete: 10 000 Jahre.«
10 000 Jahre sind eine Zeitspanne, die sich leichter in die Vergangenheit denken lässt als in die Zukunft. Bis Christi Geburt: 2000 Jahre. Stonehenge: 4800 Jahre. Die Pyramiden von Gizeh: 5000 Jahre. Die Anfänge der ersten Hochkultur des Menschen, die Sumerer: 6000 Jahre. Jungsteinzeit: 10 000 Jahre – damals wurden die ersten Menschen sesshaft. Damit ist die Dauer der Halbwertszeit von Plutonium-239 noch nicht einmal zur Hälfte erreicht.
Thomas Sebeok stellte die nächste Frage: welche Sprache für das Warnsystem vorgesehen sei. Das sei seine Sache, hieß es aus der Regierung. Wenn er aber Inschriften benutzen wolle, müsse er außer an Englisch auch an Französisch, Russisch, Arabisch, Spanisch und alle anderen Sprachen denken, die in Gebrauch sein könnten. »Das war abwegig«, erinnerte sich Sebeok später. »Keiner weiß doch zum Beispiel, welche Sprachen diejenigen sprechen werden, die in 5000 Jahren an dem Ort leben, den wir heute Nevada nennen.« Den Wüstenstaat Nevada hatten Geologen schon in den Achtzigerjahren als bevorzugte Stätte für ein atomares Endlager ausgesucht.
Die Halbwertszeit der Sprache ist kurz im Vergleich zu der radioaktiven Abfalls: Das Nibelungenlied im Original, »Uns ist in alten mæren wunders vil geseit/ von helden lobebæren, von grôzer arebeit« – gerade mal 800 Jahre alt. Die ältesten schriftlichen Zeugnisse der Menschheit, keine 5000 Jahre alt, sind allein Experten verständlich. Binnen 8000 Jahren, schätzen Wissenschaftler, tauscht sich der Wortschatz einer Sprache komplett aus.
Professor Sebeok erschien das Vorhaben absurd, gleichzeitig war er fasziniert und sagte seine Hilfe zu. Er bekam neun Monate, um eine Lösung zu finden, die 10 000 Jahre überdauern sollte.
Der Professor kehrte an seinen Lehrstuhl zurück, sagte alle Verpflichtungen ab und wühlte sich in die Vergangenheit: Wie sahen die ältesten Warnschilder der Menschheit aus? Sebeok stieß auf das Beispiel des persischen Königs Darius, der Inschriften in Stein hauen ließ, um Feinde abzuschrecken – er verfluchte sie in drei verschiedenen Dialekten, um sicherzugehen, dass jeder Eindringling die Warnung verstehe. Allerdings löschten Wind und Wetter viele der Inschriften bald aus. Und auch die verbliebenen Warnungen hatten keinen Effekt, wohl auch, weil die Eindringlinge sie nicht lesen konnten, wie Sebeok vermutet.
Atomblumen oder Strahlenkatzen?
Während sich der Professor an der Vergangenheit entlangdachte, erlebte er, wie andere Mitglieder seines Expertenstabs in Fantasien schwelgten. Sie entwickelten Pläne, über Endlagern ein atomares Stonehenge aus beschrifteten Stelen zu errichten. Aus diesem Vorschlag entstand später eine Schule, die Architektur als Warnung einsetzen wollte: Felder aus meterhohen, sich kreuzenden Stacheln und Klingen aus Stein, umgeben von Schildern in sieben Sprachen, um Archäologen der Zukunft die Entschlüsselung zu erleichtern. Oder sollte die Warnung nicht besser in Bildern übermittelt werden? Ein Comicstrip wurde entworfen, auf dem ein Männchen sich am Boden windet, nachdem ein Endlager aufgebrochen ist.
Vorschläge wie diese waren der Anfang des Forschungszweigs »Atomsemiotik«: eine winzige Nische der Wissenschaft, die sich dem Atommüll als Kommunikationsproblem widmet. In Deutschland griff der Berliner Professor Roland Posner die Fragestellung seines Kollegen Sebeok auf. Posner sammelte in der Zeitschrift für Semiotik Vorschläge für ein Warnsystem atomarer Endlager, die er 1990 in einem Buch veröffentlichte. Sie klangen wie Science-Fiction: Ein Experte schlug vor, einen künstlichen Mond in den Weltraum zu schießen, der dort, entfernt von allen Wendungen der Erdengeschichte, als Datenbank des Atommülls dienen sollte – eine extreme Lösung für das grundlegende Problem, überhaupt ein Medium für die Botschaft zu finden, das langlebig genug ist. Der polnische Philosoph Stanislaw Lem plädierte dafür, eine »Atomblume« zu züchten, die nur in der Nähe von radioaktivem Abfall gedeiht – eine sich selbst fortpflanzende Botschaft. Auf die Spitze getrieben wurde diese biologische Lösung mit dem Vorschlag, Strahlenkatzen zu züchten, deren Fell unter radioaktiver Strahlung die Farbe wechselt. Wie aber stellt man sicher, dass Atomblumen in 10 000 Jahren nicht gepflückt, sondern als Warnung verstanden werden?
Auf dieses Problem war bereits der Expertenstab um Sebeok Anfang der Achtzigerjahre gestoßen. Die Arbeit des Professors und seiner Forscherkollegen war wie eine Reise: Atommüll und seine Lagerung über Millionen Jahre, das schien lange ein technische Frage, verhandelt in Formeln – es waren Naturwissenschaftler gewesen, die Zeiträume dieser Dimension durchmessen hatten. Nun wanderten auch Geisteswissenschaftler an diesen Grenzen des menschlichen Vorstellungsvermögens. Wer wie Thomas Sebeok von dieser Reise zurückkehrte, der wusste: Atommüll ist nicht nur ein technisches Problem. Atommüll ist auch eine philosophische Frage.
Sebeok sah die Annahmen der Semiotik bestätigt: Es gibt keine Sprache – auch keine Bildsprache –, die außerhalb ihres Kontextes verstanden werden kann. Aus sich selbst heraus erschließt sich die Bedeutung von Zeichen nie. Sebeoks zog eine radikale Schlussfolgerung: Wenn es unmöglich ist, ein Zeichen zu finden, das noch in 10 000 Jahren vor Atommüll warnt, muss die Lösung sein, einen kulturellen Kontext zu schaffen, der diesen Zeitraum überdauert. Ein Vorbild fand Sebeok in der katholischen Kirche: Seit 2000 Jahren tragen deren Priester die Botschaft Christi durch die Zeit.
Im Abschlussbericht des Expertenstabs, nach neun Monaten Forschung, schlug Sebeok vor, Spezialisten wie Physiker oder Ärzte für Strahlenerkrankungen in einer Art religiöser Bruderschaft zu versammeln, die das Wissen über Atommüll wie ein Mysterium weitergibt. Sebeok nannte sie »atomic priesthood«, die Atompriesterschaft.
»Ein Fehler«, stellte er rückblickend fest. Schon die Mitglieder seines Expertenstabs lachten ihn aus. »Sie sagten: Priesterschaft, was für ein alberner Ausdruck.« Das Wort allein verstanden Wissenschaftler als Beleidigung ihres Intellekts. Sie verspotteten Sebeok, den berühmten Semiotiker, als den Typen mit der Kirche des Atoms. So erlebte Sebeok selbst, was auch der Atomsemiotik widerfahren sollte: Wenige nahmen sie ernst. Atomblumen? Strahlenkatzen? Das schien absurd.
Aber war nicht bereits die Vorstellung absurd, Atommüll lagern zu können, über eine Million Jahre oder mehr? Die Suche nach einem Symbol, das auf alle Zeit vor der Gefahr von Atommüll warnt, wurde zu einem Symbol für die Gefahr der Atomkraft an sich.
Über die Jahre verlor das Thema seine Brisanz. Die Atomkraft erschien zunehmend als beherrschbar und damit irgendwie auch der Strahlenmüll. Das hat sich seit Fukushima geändert. Der jüngste bizarre Vorschlag, eine Warnung zu finden, die 10 000 Jahre überdauert, kommt gerade aus der Schweiz: Eine Studie empfahl, ein noch zu errichtendes Endlager mit Millionen von Tonscherben zu markieren, die zu Symbolen wie Totenschädeln angeordnet werden.
So führt das Atomzeitalter auch nach dreißig Jahren Forschung in die immer gleiche Sackgasse: Wir häufen einen stetig wachsenden Müllberg an und finden nicht einmal die Worte, um künftige Generationen davor zu warnen.
Ein Gestrüpp aus Granit, hoch wie ein Haus – einer von mehreren Vorschlägen für ein Warnsystem, mit dem atomare Endlager gekennzeichnet werden sollten. Das Problem: Würde diese Botschaft in ferner Zukunft verstanden werden?
Wie schwer es ist, verständlich zu warnen, zeigt das neue Warnschild für radioaktive Stoffe: Es soll so eindringlich wie möglich Gefahr signalisieren - doch Wissenschaftler kritisieren, die Kombination von drei Symbolen könnte eher Verwirrung stiften.
Illustration: Dirk Schmidt