Spricht etwas dagegen, Liegestühle zu reservieren? Ich denke: ja. Und Sie haben selbst die Erklärung dafür geliefert: Ein Handtuch nimmt den Stuhl viel länger in Beschlag als ein Mensch; deshalb reichen die Liegestühle nicht aus, wenn sie vorsorglich für den ganzen Tag belegt werden. Das Reservieren ist also nicht die berechtigte Wahrnehmung eigener Interessen, sondern rücksichtslos. Trotz dieser Erkenntnis schließen Sie sich an – gegen Ihren Willen. Warum? So komisch es klingt, ich fürchte, Sie sind tatsächlich moralisch geschädigt, in gewisser Weise infiziert worden. Und zwar von etwas, was Sie, einem Virus ähnlich, als Wirt zu seiner Verbreitung benutzt: ein Mem, auch »Virus of the Mind«, also »Virus des Geistes«, genannt.Die Idee geht zurück auf den Oxforder Evolutionsforscher Richard Dawkins. Ausgehend davon, dass sich mit der Genetik allein nicht alle Phänomene des Lebens, speziell der Kultur, befriedigend erklären lassen, entdeckte er neben den Genen noch eine zweite Form der Information, die sich selbst vervielfältigen kann. Er nannte sie »Meme«. Der Begriff hat inzwischen mit folgender Definition Eingang ins Oxford Dictionary gefunden: »Element des Verhaltens oder der Kultur, das durch Imitation oder auf anderem, nicht genetischem Weg weitergegeben wird.« Zum Beispiel Moden, die sich verbreiten, Melodien, die nachgesungen werden, oder, wie in Ihrem Fall, kopierte Verhaltensweisen. Die Erkenntnis, dass Sie infiziert worden sind, verdanke ich allerdings nicht besonderen moralmedizinisch-diagnostischen Fähigkeiten, sondern dem Münchner Rechtsphilosophen Lothar Philipps, der während eines Ischia-Urlaubs dieselbe Beobachtung machte wie Sie und als Spezialist für Normen des Alltags darin ein memetisches Verhalten erkannte. Philipps stellte fest, dass sich das Reservierungsmem extrem erfolgreich verbreitet, weil es entgegenstehende Meme, sprich Verhaltensweisen, binnen kürzester Zeit verdrängt; ebenso wie günstige genetische Eigenschaften in einer darwinistischen Selektion weniger günstige verdrängen: Das Reservieren wird nachgeahmt, schließlich sehen sich immer mehr Gäste verleitet, es ebenso zu tun, und am Ende hat sich das Verhalten durchgesetzt.Diagnostik ist eine Sache, Therapie eine andere. Philipps erwägt, stellvertretend für den Reservierungsanspruch ein Handtuch zu Boden zu schleudern und in Rousseau’scher Tradition auszurufen: »Hütet euch, auf diese Anmaßung zu hören!« Allerdings sieht er das als hoffnungslos an, weil alle möglichen Zuhörer am Pool einen Platz ergattert und somit von der Methode profitiert haben. Der Protest muss wohl wirklich nicht sein, aber ich stimme ihm zu, dass man notfalls den Konflikt riskieren muss, solange nicht ein dazu berufener Bademeister die ungehemmte Verbreitung der Platzhalter eindämmt, indem er sie einsammelt. Mitmachen scheint mir keine Alternative und hier kann schon die Kenntnis des Krankheitserregers allein zur Immunisierung führen.
Die Gewissensfrage
»Sobald sich in einem Hotel deutsche Touristen aufhalten, finden sich ab fünf Uhr morgens Handtücher auf den Liegen am Pool. Die Gäste tauchen dann später auf, um ›ihre‹ Liege in Beschlag zu nehmen. In der Regel verbietet die Hausordnung das Reservieren, das wird aber nicht beachtet. Dabei hätten viel mehr Gäste etwas davon, wenn die Liegen einfach beim Eintreffen belegt würden. Bei unserem letzten Urlaub haben wir uns zunächst korrekt verhalten und nicht reserviert. Irgendwann haben wir jedoch entnervt aufgegeben und ebenfalls die Handtuchmethode angewandt, weil wir sonst niemals eine Liege ergattert hätten. Merkwürdigerweise wurden unsere Gewissensbisse von Tag zu Tag geringer. Sind wir moralisch geschädigt aus dem Urlaub zurückgekommen?« EDUARD K., ANSBACH