Die Gewissensfrage

»Vor einiger Zeit war ich auf die Hochzeit von guten Freunden eingeladen. Auf diesem Fest fühlte ich mich überhaupt nicht wohl. Die Stimmung war unterkühlt, das Essen reichte nicht, die Gespräche waren mühsam, die Örtlichkeit trist. Offensichtlich empfand nicht nur ich dies so – viele Freunde verließen die Feier relativ früh. Nur das Hochzeitspaar war von dem Fest restlos begeistert und sprach noch Tage danach sehr glücklich darüber. Auf Nachfragen der beiden, ob mir der Abend auch gefallen habe, äußerte ich mich, entgegen meiner eigentlichen Meinung, positiv, um sie nicht zu verletzen. Habe ich richtig gehandelt?« KAI-UWE W., MÜNSTER

Sie verwenden das Wort nicht, aber Sie haben Ihren guten Freunden ins Gesicht ge-logen. Dies begründen Sie damit, sie nicht verletzen zu wollen. Und – das mag Sie jetzt vielleicht überraschen – ich kann Ihnen nur zustimmen. Auch wenn ich gestehen muss, dabei ein klein wenig Bauchschmerzen zu verspüren. Seit Jahren schreibe ich immer wieder gegen die Lüge und versuche, sie in unserer Gesellschaft zurückzudrängen. Es wäre auch ziemlich einfach, Ihr Lügen mit einer Batterie von Zitaten und schwergewichtigen Namen streng logisch und konsequent zu verdammen. Trotzdem erscheint es mir hier nicht sinnvoll. Ehrlichkeit ist ein hoher Wert, aber nicht der einzige. Daneben gibt es auch das Gebot, andere nicht zu verletzen, und das wiegt meiner Meinung nach in diesem Fall schwerer.Ein Brautpaar fiebert lange auf den Tag hin, gibt sich Mühe, es soll eine Hoch-Zeit, also etwas ganz Besonderes werden, nicht umsonst wird der Tag oft auch als der schönste des Lebens bezeichnet. Und dann kommen Sie und sagen: Da habt ihr euch getäuscht. Die Erkenntnis, sich an dem Tag getäuscht zu haben, reift zwar so manchem Paar im Laufe der Jahre von allein, so kurz nach dem Jawort zerstören Sie jedoch Träume und Glück. Sie verletzen tatsächlich Ihre Freunde und das wegen einer Sache, bei der sie, da in nächster Zeit wohl keine weitere Hochzeitsfeier ansteht, wenig aus der Wahrheit lernen können. Das zwingt Sie jetzt auch nicht dazu, Begeisterung zu heucheln. Langatmige Lobpreisungen eines vorgeblich gelungenen Fests wären hier nicht nur nicht geboten, sondern fehl am Platze. Sowie keine Verletzung des anderen mehr droht, senkt sich die Waagschale wieder zugunsten der Ehrlichkeit.Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.