Die Gewissensfrage

»Wir achten auf eine ausgewogene Ernährung und erlauben unserer dreijährigen Tochter nicht allzu viele Süßigkeiten. Zu uns selber sind wir allerdings weniger streng: Wenn wir allein sind oder die Kleine schläft, essen wir gern Süßes, auch in größeren Mengen. Manchmal haben wir dabei aber ein schlechtes Gewissen. Verfahren wir nach dem Prinzip: Wasser predigen und Wein saufen?« CAROLA und HANS R., HAMBURG

Da Erziehung nicht mein Fachgebiet darstellt, habe ich mich kundig gemacht und erfahren, wie wichtig es ist, Kindern ein gutes Vorbild zu geben. Es schiede somit aus pädagogischen Gründen aus, so verstehe ich die Experten, Ihrer Tochter die Schokolade mit Hinweis auf die Schädlichkeit wegzunehmen und vor ihren immer größer werdenden Kinderaugen, aus denen die Tränen heftig zu kullern beginnen, genussvoll zu verzehren. Es sei denn, Sie wollten mit dieser Maßnahme eine schokoversessene kleine Sadistin heranziehen. Auch der Philosoph Immanuel Kant meinte in seiner Schrift Über Pädagogik: »Um in den Kindern einen moralischen Charakter zu begründen, müssen wir folgendes merken: Man muss ihnen die Pflichten, die sie zu erfüllen haben, soviel als möglich durch Beispiele und Anordnungen beibringen.« Und diese Pflichten bestünden eben nicht darin, »dass man seine Begierden und Neigungen zu befriedigen suche, denn man muss im Gegentheile sehr mässig und enthaltsam sein, sondern dass der Mensch in seinem Innern eine gewisse Würde habe, die ihn vor allen Geschöpfen adelt ... . Die Würde der Menschheit aber verleugnen wir, wenn wir z. E. ... alle Arten von Unmässigkeit ausüben u.s.w., welches alles den Menschen weit unter die Tiere erniedriget.« Allerdings mutiert Ihre Frage zur rein moralischen, sobald Sie Ihre Schlemmerei nur gut genug vor den Kinderaugen verbergen, so dass die Vorbildproblematik entfällt. Und dann würde ich differenzieren: Verbieten Sie Ihrer Tochter die Süßigkeiten, weil sie speziell wegen ihres Alters davon nicht so viel bekommen soll, scheint es mir in Ordnung zu sein, wenn Sie dennoch selbst davon essen. Schließlich dürfen Sie ja auch ein Glas Wein trinken und verwehren es der Dreijährigen hoffentlich. Sind Sie allerdings generell ein Gegner des Zuckers und tun sich nur leichter damit, Ihre Tochter zu zügeln als sich selbst, meldet sich Ihr schlechtes Gewissen zu Recht.