Die Gewissensfrage

"Stimmt es, dass Talent verpflichtet? Ich höre diesen Satz immer wieder, und auch die Redewendung vom verschleuderten Talent deutet ja an, dass es negativ sei, eine Veranlagung nicht zu nutzen. Aber habe ich wirklich eine moralische Verpflichtung, das Potenzial eines mir geschenkten Talentes auszureizen? Oder darf ich es nach Belieben brachliegen lassen?"Bernd U., Erlangen

Für Aristoteles wäre die Antwort klar gewesen. Für ihn lag in der Entfaltung der Talente das höchste anzustrebende Ziel: »…dann ist das Gute für den Menschen die Tätigkeit der Seele aufgrund ihrer besonderen Befähigung, und wenn es mehrere solche Befähigungen gibt, nach der besten und vollkommensten; und dies außerdem noch ein volles Leben hindurch. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, und auch nicht ein einziger Tag; so macht auch ein einziger Tag oder eine kurze Zeit niemanden glücklich und selig.«

Immanuel Kant betrachtete es als »unvollkommene Pflicht« gegenüber sich selbst. Wer in sich ein Talent finde, »welches vermittelst einiger Cultur ihn zu einem in allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen könnte«, es aber vorzieht, »lieber dem Vergnügen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen«, der könne, so Kant, unmöglich wollen, »dass dieses ein allgemeines Naturgesetz werde«. »Denn als ein vernünftiges Wesen will er nothwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind.« Was will man angesichts der einhelligen Meinung dieser beiden Schwergewichte noch sagen? Vielleicht das: Auch wenn es vermessen klingt, ich kann ihnen nicht zustimmen. Sie vernachlässigen aus meiner Sicht einen ganz zentralen Wert: die Freiheit des Einzelnen. Es mag unklug sein, seine Talente zu vernachlässigen, und unvernünftig. Aber es ist nicht unmoralisch. Jedermann hat, solange kein anderer geschädigt wird, ein Recht auf Unvernunft, ist seines eigenen Unglücks Schmied. Und wer meint, man dürfe Talente nicht verschwenden, weil man sie geschenkt bekommen hat – von Gott oder der Natur, je nach Einstellung – , verwechselt Hypotheken mit Geschenken: Die einen muss man abzahlen, die anderen nicht.


Weiterführende Literatur:

- Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Buch 1098 a 16 -20 übersetzt von Olof Gigon, dtv 1991
- Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe S.421
- Einen hervorragenden Überblick bietet:
Ralf Ludwig, Kant für Anfänger Der kategorische Imperativ ­ Eine Lese-Einführung dtv 1995
- Eine sehr gute Erläuterung bietet:
Immanuel Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kommentar von Christoph Horn, Corinna Mieth und Nico Scaranao, Suhrkamp Studienbibliothek 2, 2007

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