Regelungen, Gesetze, Verordnungen und dergleichen haben ein Problem, das ich mit »Rand- unschärfe« bezeichne. Sie regeln eine Vielzahl von Fällen und sollen alle gleichbehandeln, also müssen sie allgemein formuliert sein. Dadurch werden einige Situationen, die im Grenzbereich liegen, nur unzureichend geregelt, manche fälschlicherweise eingeschlossen, andere fälschlicherweise ausgeschlossen. Das liegt in der Natur einer allgemeinen Regelung. Die Idee, man könne ein Gesetz so exakt formulieren, dass jeglicher Einzelfall in absoluter Gerechtigkeit – so es die überhaupt gibt – erfasst und gestaltet wird, verkennt die Möglichkeiten und die Realität.
Was folgt daraus? Zum einen, dass man Randunschärfen akzeptieren muss, solange niemand unvertretbar belastet wird. Dafür braucht es Härtefallregelungen. Dass einzelne Fälle unzweckmäßig geregelt werden, spricht nicht gegen eine Vorschrift. Falls es zu viele sind, muss man nachbessern, ganz verhindern wird man es nie können. Wer etwa anstrebt, jeglichen Missbrauch von Sozialleistungen zu unterbinden, wird unmenschlich, und wer versucht, Umweltprämien so zu gestalten, dass keinerlei Mitnahmeeffekte möglich sind, muss sie fast unerreichbar machen. Umgekehrt bedeutet das nicht – und damit sind wir bei Ihnen –, dass jeder, der den Buchstaben nach von einer Regelung profitieren kann, dies auch guten Gewissens tun darf. Es entbindet den Nutznießer nicht davon, selbst zu prüfen, ob er nicht nur juristisch, sondern auch moralisch berechtigt ist.
Bei Ihnen liegt nicht einmal mehr nur ein Mitnahmeeffekt vor, wenn Sie in Zukunft weiterhin mit dem Auto durch Brüssel fahren – nur mit deutschem Kennzeichen –, sich dafür aber auch noch mit einem Jahresticket belohnen lassen wollen. Tatsächlich würde das dem Sinn der Aktion komplett zuwiderlaufen. Moralisch nicht korrekt, sagt Ihre Freundin?
Das trifft es ziemlich gut.
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