Die Gewissensfrage

"Im Physik-Unterricht meines 14-jährigen Sohnes wurde ein Kabel mutwillig zerstört. Der Lehrer weiß nicht, wer es war – die Kinder schon: ein Junge, der schon so viel angestellt hat, dass er nun wegen dieser Sache von der Schule flöge. Die Klasse hat sich entschlossen, ihn zu decken und die Strafe als Kollektiv auf sich zu nehmen. Der Lehrer ist entsetzt, die Eltern loben ihre Solidarität. Wer hat recht?" Andrea Z., Halle

Zunächst gilt es hier der Gefahr vorzubeugen, dass der Lehrer die Solidarität der Schüler als gegen sich gerichtet auffasst, erklärte mir eine Pädagogikprofessorin, mit der ich den Fall besprochen habe; schließlich sollte es in der Schule nicht um eine Konfrontation gehen, sondern um ein Miteinander. Dem kann ich mich nur anschließen, zumal der Lehrer im Grundsatz recht hat. Strafe ist – richtig angewendet – kein Terrorinstrument oder Selbstzweck, sondern soll ein Ziel verfolgen. Speziell in der Schule soll sie, als Teil des pädagogischen Konzepts, erziehen oder den Schulalltag aufrechterhalten. Und das mutwillige, vorsätzliche Zerstören von Unterrichtsmitteln ist nun mal Unrecht. Es stellt also ein völlig legitimes Unterfangen dar, den Übeltäter dafür zur Rechenschaft zu ziehen.

Das durchkreuzen die Schüler durch ihre Aktion. Und trotzdem gefällt sie mir. In der Werteerziehung kennt man »Schülerparlamente« und Schülergerichte« zur Vermittlung von Werten und Demokratie. So etwas Ähnliches scheint hier informell entstanden zu sein, wenn sich die Schüler spontan und wohl einstimmig über ihr Vorgehen verständigt haben. Für das Unrecht, das geschehen ist, nehmen sie eine Strafe auf sich, die alle – auch den Missetäter – trifft; sie haben sozusagen nur das Strafmaß reduziert. Und das Unrecht hält sich im Rahmen. Der Missetäter hat keinen anderen Schüler verprügelt oder Ähnliches. Dennoch sollten die Mitschüler ihm auch klarmachen, dass das ein einmaliger Akt ist, der ihm keinen Freibrief ausstellt. Dann erhält er eine Chance zur Bewährung innerhalb der Schülergemeinschaft. Und das ist auch wichtig: Der Schüler, der so viel ausgefressen hat, dass ihm ein Schulverweis droht, kann, wenn sich die Klasse solidarisch zeigt, in die Ordnung der Klasse aufgenommen werden, er wird mit anderen Worten resozialisiert – und das ist speziell bei Jugendlichen das höchste Ziel jeglicher Strafe.

Literatur:
Georg Lind, Moral ist lehrbar, Oldenburg Verlag, München 2003, (dort
insbesondere ab S. 95)

Meistgelesen diese Woche:

Detlev Horster/Jürgen Oelkers (Hrsg.), Pädagogik und Ethik, VS Verlag
für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005

Detlef Horster (Hrsg.), Moralentwicklung von Kindern und Jugendlichen,
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007

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