Die Gewissensfrage

"Die Bewohnerin eines Pflegeheims, die als äußerst schwierig gilt, spendierte den Betreuerinnen einen Kasten Apfelschorle, den einige Pflegerinnen nicht annehmen wollten, mit der Begründung, sie seien nicht bestechlich. Eine neue Pflegehilfskraft war dagegen der Meinung, man dürfe diese Geste der Dankbarkeit und vielleicht auch der Entschuldigung nicht zurückweisen. Was meinen Sie?" Lise R., Zuffenhausen

Leider schreiben Sie nicht, ob es eine feste Regelung für Geschenke an Mitarbeiter des Heims gibt. Falls dies nicht der Fall ist und die Pflegerinnen die kleine Gabe nur abgelehnt haben, weil sie von der schwierigen Bewohnerin kam, spräche so manches für die Meinung der jungen Hilfskraft. Allerdings hängt dann viel von den genaueren Umständen ab.

Wesentlich wahrscheinlicher ist jedoch, dass es, wie in vielen Heimen, ein allgemeines Verbot für die Annahme von Geschenken gibt. Und dann stellt sich die interessante Frage, ob man hier eine Ausnahme hätte machen dürfen. Das könnte man unter Berufung auf die »Epikie«: Nach diesem auf Deutsch »Billigkeit« genannten Grundsatz, der auf Aristoteles zurückgeht, soll man im Einzelfall von einer festen Regel abweichen, wenn das Festhalten an ihr unangebracht wäre, weil der spezielle Fall anders liegt, als der, für den die Regel gedacht war. Aber ich finde, obwohl ich ein großer Freund der Epikie bin, man würde es sich hier mit ihr zu leicht machen. Ich weiß, dass ich mich und die Moral beliebt machen kann, wenn ich sie als die Institution darstelle, mit der man sich großen Geistes über die Niederungen der Gesetze und Vorschriften erhebt. Das kann manchmal geboten sein, aber auch Vorschriften haben einen moralischen Gehalt: Nicht nur wegen ihres jeweiligen Inhalts, sondern oft gerade wegen ihres Anspruchs, ausnahmslos zu gelten.

Und genau das sehe ich hier: Teils, weil so am effektivsten tatsächlicher Bestechung vorgebeugt wird – und die kann man auch schon in einem Apfelschorlekasten erblicken. Vor allem aber, weil eine strikte Regelung entlastend wirkt, hier gerade auch im Verhältnis zu den Bewohnern. Dass generell nichts angenommen werden darf, ist leichter zu vermitteln und weniger schnell als persönliche Kränkung aufzufassen, als wenn man von Fall zu Fall – und sei es noch so berechtigt – unterschiedlich entscheidet und das eine Geschenk zurückweist und das andere nicht.

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Literatur:
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 5. Buch 1137 a32 ff.
Thomas von Aquin, Summe der Theologie, 2-2 qu. 120; 1-2 qu. 96
Günter Virt, Epikie - verantwortlicher Umgang mit Normen, Mathias-Grünewald-Verlag, Mainz 1983

Marc Herold (Illustration)