»Ich bin Mitglied in einem Kampfsportverein, war aber in letzter Zeit aus verschiedenen Gründen nicht im wöchentlichen Training. Meine Gruppe im Verein ist relativ klein, die ehrenamtlichen Trainer geben quasi Privatstunden. Muss ich also ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich wegen Lustlosigkeit oder anderer banaler Gründe dem Training fernbleibe?« Robin S., Erfurt.
Eines vorneweg: Fast drängt sich mir die Frage auf, ob es nicht aus moralischer Sicht generell besser ist, nicht zu einem Kampfsportverein zu gehen. Tatsächlich kann ich ein gewisses Unbehagen gegenüber der wechselseitigen Gewaltanwendung als Freizeitvergnügen nicht leugnen, aber dagegen lässt sich wohl das Messerargument vorbringen: Nicht das Messer ist schlecht, sondern was man mit ihm macht. Kampfsportarten können der Selbstverteidigung dienen und der Körperbeherrschung.
Damit wenden wir uns dem Kernproblem zu: Das verorte ich in der Frage der Verbindlichkeit. Der Zürcher Ethiker Markus Huppenbauer beschreibt sie als Tugend, die, wie jede Tugend in aristotelischer Tradition, die Mitte zwischen zwei Extremen darstellt: hier die zwischen Flatterhaftigkeit und Fixiertheit. Zudem sieht er diese Tugend unter Berufung auf Immanuel Kant untrennbar mit der Freiheit verbunden. Nur wenn man eine gewisse Entscheidungsfreiheit hat, also nicht durch Verträge, Verpflichtungen oder das Gesetz absolut festgelegt ist, bekommt der Begriff Verbindlichkeit im Alltag auch einen Sinn.
Huppenbauer weist auch auf einen interessanten Aspekt hin: Unverbindlichkeiten würden vor allem dann wahrgenommen, wenn in einer Konstellation, die nicht explizit geregelt ist, Asymmetrien entstehen. Und genau das scheint mir bei Ihnen der Fall zu sein: Vermutlich würden Sie es eigenartig finden, wenn die ehrenamtlichen Trainer einfach so wie Sie »wegen Lustlosigkeit oder anderer banaler Gründe« das Training ausfallen ließen. Das aber zeigt doch, dass in der Verabredung zum Training zwar keine absolute Verpflichtung, aber doch eine gewisse Verbindlichkeit liegt.
Was bedeutet das konkret? Die Antwort wird leichter, wenn man Verbindlichkeit tatsächlich als Tugend auffasst, die nicht starr angewendet, sondern zwischen den beiden Extremen jeweils der Situation angepasst wird. Sie müssen also kein ärztliches Attest vorlegen, wenn Sie einmal nicht kommen wollen – aber vollkommen beliebig ist Ihr Erscheinen auch nicht, weil das tatsächlich dem anderen Part, den Trainern, nicht gerecht wird.
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Quellen:
Markus Huppenbauer, Verbindlichkeit – semantisch und ethisch, in: Gabrielle Rütschi, Vielleicht. Die unverbindliche Verbindlichkeit. Books on Demand, Norderstedt 2008, S. 103-120
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe S. 439. Dort heißt es: „Der Wille, dessen Maximen nothwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heiliger, schlechterdings guter Wille. Die Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Princip der Autonomie (die moralische Nöthigung) ist Verbindlichkeit. Diese kann also auf ein heiliges Wesen nicht gezogen werden. Die objective Nothwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht.“
Allgemein zu den Tugenden als Mitte zwischen zwei Extremen: Aristoteles, Nikomachische Ethik, II. Buch, 6. ff. 1106 b37 ff.
Illustration: Marc Herold