Paul Stamets sagt von sich selbst, er sei als Kind so schüchtern gewesen, dass er den Blick fast immer zu Boden gesenkt hielt. Dort entdeckte er etwas, von dem er inzwischen meint, es könnte den Planeten retten: Pilze. Ehrlicherweise muss man dazu setzen, dass seine Neugierde auf Pilze in seiner Sturm- und Drangzeit vor allem von psychedelischen Pilzen befeuert wurde. Es gab da einen unrühmlichen Zwischenfall, als der damals 19 Jahre alte Teenager eine ganze Tüte Magic Mushrooms aß, im Rausch auf einen Baum kletterte und alleine nicht mehr herunterkam. Aber seine vielen Streifzüge auf der Suche nach einem High durch die nordamerikanischen Wälder bescherte ihm eine ungeahnte Karriere: Heute ist der Mann der Pilzguru schlechthin. Sein schwammerlfarbener Schlapphut: aus Pilzen gemacht. Seine sechs Labore auf seiner Farm bei Seattle: voller Fungi. Sein Online-Geschäft: Medikamente, die aus Pilzen gemacht sind. Seiner eigenen Mutter, so meint er, hätten die Pilzmedikamente das Leben gerettet.
Aber der Reihe nach: Pilze, sagt Paul Stamets, 62, könnten nicht nur Krebs heilen, sondern auch Öl essen, Autos betanken und Häuser bauen. Endlich etwas, das dem Titel dieser Kolumne alle Ehre macht: Die Lösung für alles! Bevor Sie den Mann mit der Nickelbrille und dem grauen Rauschebart nun als Spinner abtun: Er hat Beweise.
Stamets, von Beruf eigentlich Holzfäller, ist nicht nur im Vorstand des International Journal of Medicinal Mushrooms, Berater der University of Arizona, Ehrendoktor der National University of Natural Medicine, Ko-Autor mehrerer wissenschaftlicher Studien über Pilzmedikamente für HIV und Krebskranke sowie Inhaber von neun Pilz-Patenten, sondern wurde auch mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Bioneers Award. Er hat tatsächlich als Erster entdeckt, dass ein seltener nordamerikanischer Pilz vor Pocken schützt und damit sogar das Interesse des US-Verteidigungsministeriums für dessen BioShield-Programm geweckt. Selbst renommierte Wissenschaftler halten den Mann, der über ein Grundstudium in Mykologie nicht hinauskam, für ein Genie.
Zunächst einmal muss auch der größte Pilzskeptiker zugeben, dass Pilze mysteriöse, oft unterschätzte Phänomene sind: Sie können so gigantisch werden wie ein Dutzend Blauwale oder so winzig, dass sie für das menschliche Auge unsichtbar bleiben. Sie können andere Lebewesen und Pflanzen töten oder ihnen Leben schenken, indem sie ihnen Nährstoffe zukommen lassen. Von vielleicht 150 000 Pilzarten sind laut Stamets erst rund 14 000 identifiziert, ständig werden neue entdeckt und mit ihnen neue Wirkstoffe und Möglichkeiten. »30 Prozent des Bodens unter unseren Füßen besteht aus Pilzmasse«, sagt Stamets. »Deshalb sind Pilze der Schlüssel zur Gesundheit unseres Planeten.« Er nennt das ausgiebige Wurzelgeflecht der Pilze »das natürliche Internet der Welt«.
Stamets hat mehrere Bereiche identifiziert, in denen Pilze zur Lösung beitragen.
1. Umweltverschmutzung
Stamets hat auf seinem Bauernhof keine reguläre Gülleanlage, sondern er installierte ein Pilzgeflecht, das Bakterien aus dem Abwasser filtert. In Bellingham, Washington, renovierte er ein ehemaliges Wartungsgelände für Lastwagen, das von Benzin und Öl verseucht war, indem er die Sporen von Austernpilzen in den vergifteten Boden mischte. Schon einen Monat später hatte sich die zuvor fast schwarze, stinkende Erde begrünt: Pilze ernähren sich von dem, was sie in der Umgebung finden, in diesem Fall von Diesel. Sie vertilgten 99 Prozent der Schadstoffe. Ähnlich ist er bei der Reinigung eines Fabrikgeländes vorgegangen, auf dem Chemikalien produziert worden waren.
2. Insektizide
Pilze wehren sich gegen ihre natürlichen Feinde, Insekten, mit Sporen, die Insekten töten. Stamets hat Pilze gezüchtet, die Häuser vor Termitenbefall und Waldameisen schützen und hält mehrere Patente für natürliche, aus Pilzen hergestellte Insektizide.
3. Umweltfreundliche Verpackungen
Die Firma Ecovative lässt aus Pilzsporen umweltfreundliches Verpackungsmaterial wachsen, das herkömmliches Styropor ersetzt und hundert Prozent biologisch abbaubar ist. Sogar ganze Häuser bauen die Erfinder mittlerweile aus dem Material.
4. Bio-Treibstoff
Anstatt Bio-Treibstoff aus Mais herzustellen, inokuliert Stamets den Mais erst mit Pilzen, die die Zellulose in Zucker verwandeln. Damit wird der Prozess nicht nur effizienter, sondern das Wurzelgeflecht der Pilze restauriert auch den Humus, auf dem der Mais angebaut wird.
5. Immunsystem
Aber am meisten Aufmerksamkeit erregt Stamets mit seinen Pilzmedikamenten. »Pilze produzieren starke Antibiotika«, sagt Stamets und hat unter anderem die Wirkung von Pilzmedikamenten gegen Grippe nachgewiesen. Den wohl spektakulärsten Heilungserfolg erzielte er bei seiner eigenen Mutter.
Patty Stamets wurde vor acht Jahren mit unheilbarem Brustkrebs diagnostiziert, Stufe 4. Die Ärzte gaben ihr noch drei bis vier Monate zu leben. Aber Patty Stamets machte nicht nur eine Chemotherapie, sondern nahm auch immunstimulierende Medikamente aus Schmetterlingsporlingen (die natürlich ihr Sohn gezüchtet hatte). Ein Jahr später war sie krebsfrei. Heute ist sie 87 Jahre alt und erfreut sich bester Gesundheit.
Über eine derart spektakuläre Genesung kann man natürlich nicht schreiben, ohne sofort Fragezeichen zu montieren: Ist das bewiesen? Gibt es dazu Studien? Patty Stamets Fall ist bewiesen, ja, dass Pilze wie die Porlinge oder Shiitake das Immunsystem stimulieren, auch, aber Studien, die eindeutig nachweisen, dass Spontanheilungen auf die Pilze und nicht auf die Chemotherapie oder auf Launen der Natur zurück gehen, gibt es nicht.
In Amerika ist Stamets ein Star, in Deutschland allerdings nahezu unbekannt. Nur einer seiner zahlreichen Besteller ist überhaupt ins Deutsche übersetzt worden. Dabei wurden Stamets sogar die höchsten Ehren zuteil, die es für einen Visionär gibt: Der Mann ist als Pilzkoryphäe so bekannt, dass Star Trek einen »Astromykologen« nach ihm benannt hat. Die Star-Trek-Macher lassen ihren Paul Stamets als Chef-Ingenieur der USS Discovery fungieren.
Als sie bei dem echten Paul Stamets anfragten, ob sie denn seinen Namen in der Folge verwenden dürften, schickte der ihnen begeistert ein Foto seines selbst entworfenen Ferienhauses in British Columbia: Als großer Star-Trek-Fan hatte er es ans Design von Raumschiff Enterprise angelehnt.
Der Film-Stamets geht freilich in seinen Visionen noch viel weiter als der echte Erd-Stamets: Der Film-Mykologe enthüllt, dass das ganze Universum auf Pilzsporen basiert. Und weil er in der Lage ist, mit den Sporen zu kommunizieren, überwindet er die normalen Zeitdimensionen.
Da soll noch einer sagen, den Pilzen gehöre nicht die Zukunft.
Vielen Dank an die Leserin Levke Petersen für die Idee zu dieser Kolumne.