Ein Knall, und die Welt von Jason Barnes explodierte in pink. Der damals 22 Jahre alte Barnes wollte gerade den Lüftungsschacht eines Restaurants in McDonough bei Atlanta reinigen, als ein Kurzschluss eine geballte Ladung Hochspannung durch seine rechte Körperseite schickte. »Ich stand mit den Gummistiefeln in Wasser, hatte also keine Erdung. Ich wurde total gekocht.« Nach der siebten Operation war klar, dass die Arterien so schwer geschädigt waren, dass seine rechte Hand nicht zu retten war. Er ließ sie amputieren.
Dennoch redete er sich Mut zu: »Die meisten, die einen so massiven Schlag abkriegen, verlieren alle vier Extremitäten; ich hatte noch Glück, dass ich nur die Hand verlor.«
Aber trotzdem: Den großen Traum, als Schlagzeuger eine erfolgreiche Musikkarriere hinzulegen, konnte er begraben. Der schlaksige Musiker mit den tätowierten Armen und dem blonden »Man-Bun« hatte vorher leidenschaftlich Klavier, Gitarre und Schlagzeug gespielt. »Das Schlagzeug war für mich am allerwichtigsten im Leben.« Barnes wurde monatelang so depressiv, dass er es kaum aus dem Bett schaffte.
Drei Monate nach dem Unfall zerrte er sein Schlagzeug aus der Garage, »einfach aus purer Langeweile und Verzweiflung«, band sich einen Schlagzeugstock an den Verband am rechten Arm und spielte. Ganz passabel, aber es tat »höllisch weh«, und er hatte keinen festen Griff um den Stock, mit dem er die Schläge variieren, härter oder weicher trommeln konnte.
Trotzdem bewarb er sich am Atlanta Institute of Music and Media in Georgia, wurde angenommen, und dort hörte er zum ersten Mal von Gil Weinberg. Weinberg ist in Atlanta eine Legende. Der israelisch-stämmige Tech-Tüftler ist der Gründungs-Direktor des Georgia Tech Center für Musiktechnologie und eine Koryphäe der künstlichen Intelligenz. Der Computerwissenschaftler träumte eigentlich selbst von einer Karriere als Konzertpianist, aber beim Studium in Tel Aviv und am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei Boston faszinierten ihn die kreativen Spielmöglichkeiten der künstlichen Intelligenz.
Die Prothese reagiert auf feinste elektrische Signale der Muskeln. Wenn Barnes die Muskeln seines Oberarms anspannt, wird der Schlag fester.
Er hat unter anderem eine Roboter-Band geschaffen, mit dem Robot-Schlagzeuger Haile, dem Marimba spielenden Shimon und der tanzenden Roboterdame Shimi. Hören Menschen mit geschlossenen Augen zu, glauben sie, menschlichen Musikern zu lauschen. Denn die Roboter halten nicht nur den Rhythmus perfekt, sondern sie können auch das, was Automaten sonst fehlt: Sie hören, was die menschlichen Bandmitglieder spielen, stimmen ein, improvisieren. Weinberg hat sie mit den kreativsten Improvisationen von Jazzgrößen wie John Coltrane und Thelonious Monk trainiert. »Meine Roboter inspirieren und kreieren neue Musik«, sagt Weinberg. »Ich nenne sie nicht Musik-Roboter, sondern Robot-Musiker, denn sie sind zuallererst Musiker.« Er wird dafür oft von Musikern kritisiert: »Nehmen uns Roboter jetzt auch noch die Musik weg?« hört er häufig.
Aber für Barnes, inzwischen 29, wurde die Idee zum Hoffnungsschimmer. Könnte ihm Weinberg nicht vielleicht einen neuen Schlagzeuger-Arm bauen? Weinberg konnte. Acht Monate lang experimentierte Weinberg mit einer Prothese, bis er Barnes anrief: Komm vorbei, sie ist fertig. Barnes schnallt sich seine futuristisch wirkenden Drummer-Prothese an seinen Stumpf; die Prothese ist mit zwei Schlägeln verbunden. »Einen Stock kontrolliere ich selbst mittels elektromyographischen Sensoren (EMG).« Das heisst: Die Prothese reagiert auf feinste elektrische Signale der Muskeln. Wenn Barnes die Muskeln seines Oberarms anspannt, wird der Schlag fester. Der Clou: Der zweite Stick wird nicht von ihm kontrolliert, sondern ist autonom. »Der Stock improvisiert seinen eigenen Rhythmus, hört mit Hilfe eines Mikrofons den anderen Musikern zu und produziert mit einem Algorithmus dann einen neuen Beat, der den Rhythmus und die Melodie ergänzt.« Jeder Stick kann 20 Schläge pro Sekunde trommeln, die beiden Stöcke zusammen also 40 Schläge. Soviel schafft kein Mensch. (Der Weltrekord liegt bei etwas über 20 Hits pro Sekunde.)
Barnes spielt de facto mit zwei Armen und drei Stöcken. »Es ist fast, als hätte man noch einen zweiten, bionischen Drummer in der Band«, sagt er. Das mache Barnes zu einem »übermenschlichen Schlagzeuger«, meint Weinberg und hofft, damit einmal ganz neue Musikstile zu schaffen, vielleicht polyrhythmische Kompositionen, die bisher kein Mensch spielen konnte.
Bekanntlich können Maschinen inzwischen malen wie Rembrandt (wie an der Universität Delft, bei dem man eine KI mit sämtlichen Porträts Rembrandts trainierte), Reden schreiben wie Barack Obama und nun eben auch beim Jazz improvisieren wie John Coltrane. Besonders interessant ist die Schnittstelle zwischen Computer und Mensch. Blinde können mit bionischen Augen wieder sehen, Amputierte mit Cyborg-Beinen laufen und klettern. Weinberg und seine Kollegen an der Georgia Tech haben unter anderem auch einen schwarzen »Skywalker«-Arm erfunden, den er nach dem Star Wars Held Luke Skywalker benannte. Der verlor bekanntlich im Kampf mit Darth Vader seine rechte Hand und ersetzte sie später durch eine Prothese, mit der er tasten und fühlen kann. Barnes kann mit Hilfe des bionischen Arms auch wieder Klavier spielen. Ultraschallsensoren verfolgen die Muskelanspannung im Oberarm und übersetzen selbst feinste Signale in präzise Fingerbewegungen. Es reicht noch nicht für die Carnegie Hall, aber zumindest für die Grundtöne der Titelmelodie von Star Wars.
Weinberg glaubt, dass Barnes in zwei Jahren mit dem Arm Chopin spielen kann. Dabei ist die Musik für ihn nur der Anfang: »Um Musik zu machen, braucht man Präzision, Rhythmus und nun ja, Fingerspitzengefühl«, sagt Weinberg. »Wer Musik machen kann, kann auch vieles andere.« Sein Institut hat unter anderem auch Handschuhe kreiert, die ihrem Träger innerhalb einer Stunde das Klavierspielen beibringen oder Blinden das Braille-Lesen (was sonst üblicherweise etwa vier Monate dauert). Die Handschuhe funktionieren mit »passivem haptischem Lernen«, das heißt sie stimulieren die korrekten Handbewegungen, bis sie dem Handschuhträger zur Eigennatur werden. Diese Innovationen, so hoffen die Erfinder, könnten auch Hirngeschädigten bei der Rehabilitation helfen, die richtigen Bewegungen wieder zu lernen oder zum Beispiel auf einer Tastatur zu tippen. »Die Untergangspropheten fürchten, Roboter nehmen uns unsere Jobs weg«, sagt Weinberg. »Aber hier haben wir ein Beispiel, wo Menschen ohne die Roboter ihren Job nicht machen könnten.«
Es ist für Barnes eine »merkwürdige« Erfahrung, mit Robotern als Bandkollegen zu spielen. »Die Roboter irren sich nie, hauen nie daneben, sind immer im Takt.« Gleichzeitig sind sie aber nicht auf Autopilot gestellt, sie »hören« die Musik, improvisieren, sind auch für eine richtige Jam-Session zu haben. Der einzige Wermutstropfen: Die Prothese kostet 100.000 Dollar und der Prototyp ist noch nicht marktreif. Georgia Tech leiht Barnes die Prothese nur für gemeinsame Konzerte, unabhängig davon darf er sie nicht auf Tour mitnehmen. Weinberg hofft, dass er in etwa zwei Jahren bionische Arme bauen kann, die für Versehrte erschwinglich sind.
»In den Neunzigerjahren klang sowas wie Science Fiction, jetzt ist es Wirklichkeit.« Barnes hat inzwischen schon im Kennedy Center in Washington Schlagzeug gespielt, in Berlin, Paris, Shanghai, sogar in Australien. Gerade war die Roboter-Band drei Monate lang in Utrecht. Der Musiker mit den tätowierten Armen und den langen blonden Haaren hat sich damit alle Träume erfüllt: »Wäre der Unfall nicht passiert, würde ich wahrscheinlich noch in meinem alten Job arbeiten. Jetzt reise ich um die Welt und spiele. Das ist alles, was ich mir gewünscht habe.«
May the Force Be With Him.