Man soll ein Buch nicht nach seinem Cover beurteilen, heißt es im Englischen, aber bei Joel Hartgrove fällt das zugegeben schwer: Maori-Tätowierungen zieren Ohrmuscheln, Hals und Schädel; der Rest seines Gesichts wirkt, als hätte der Joker mit einem Filzstift schwarze Symbole und Buchstaben auf Stirn und Wangen gekritzelt. Kaum ein Zentimeter seines Gesichts und seines Körpers ist unbeschrieben.
»Die meisten Leute gehen mir aus dem Weg und ziehen ihre Kinder weg«, erzählt der Australier, der noch vor wenigen Jahren ein stolzer, untätowierter Soldat war, aber nach einer Verletzung chronische Schmerzen und Depressionen entwickelte. Am Anfang habe er sich die Gesichtstattoos aus genau diesem Grund stechen lassen, um Leute auf Abstand zu halten, aber inzwischen ist er dabei, auf Sanitäter umzuschulen und »die Tattoos beeinträchtigen mein Leben jeden Tag«, wie er in einem Video der Human Library berichtet. Mit Laser will er sie nun entfernen lassen, schließlich sollen Patienten keine Angst vor ihm haben.
Joel Hartgrove ist ein offenes Buch, man kann ihn sich für 20 Minuten »ausleihen«. Der Ex-Soldat ist nämlich Teil der schönsten und ungewöhnlichsten Bibliothek der Welt: der Human Library. Statt Bücher aus Papier leiht man sich hier Menschen aus, »offene Bücher«, und spricht mit ihnen über Dinge, die sie erlebt haben. Man kann Joel Hartgrove also treffen, online oder von Angesicht zu Angesicht, und mit ihm über seine Militärzeit, seine Tattoos, alle möglichen Thenmen reden und erfahren, dass hinter dem brachial aussehenden Mann ein sensibler Denker steckt, der Fragen humorvoll und klug beantwortet. Viele Personen in der Human Library teilen dabei ein ähnliches Schicksal wie Joel Hartgrove: »Sie werden stigmatisiert«, sagt der Gründer Ronni Abergel, sei es aufgrund ihres Gewichts, ihres Berufs, ihres Aussehens, ihrer sexuellen oder religiösen oder politischen Orientierung, vielleicht auch weil sie ein Trauma oder Missbrauch überlebten.
Der dänische Journalist und Aktivist Ronni Abergel, 48, hat die Human Library vor 21 Jahren gegründet, auf Einladung des dänischen Roskilde-Festivals. »Was, wenn wir einige der unbeliebtesten Menschen einladen, uns ihre Geschichte zu erzählen, damit wir sie besser verstehen und ihnen eine Chance geben, sich aus der Schublade zu befreien, in die wir sie gesteckt haben«, fragte er in die Runde seiner Freunde in Kopenhagen. Darauf meinte ein Freund: »Wie in einer Bibliothek.« Das sei der Aha-Moment gewesen, sagt Abergel. »Eine Bibliothek ist einer der letzten Räume, in dem jeder willkommen ist. Eine Bibliothek ist kostenlos, jeder kann kommen, egal wieviel Geld er hat, wie er aussieht, ob er obdachlos ist oder was er von Beruf macht.«
Oft zieht ein Thema diejenigen an, die aus sehr persönlichen Gründen mehr darüber wissen wollen
Die Human Library gibt es inzwischen in 80 Ländern, von München bis Tokio, von Bangladesch bis Sydney. Jeder Leser sucht sich beim Bibliotheksbesuch Themen aus, die ihn interessieren – von Rugby bis Depression, vom Leid der Rohingya bis zum Alltag einer Stripperin. »In jedem von uns versteckt sich ein großartiges Buch und die meisten von uns sind potenzielle Bestseller«, sagt Abergel. »Du nimmst den Polizisten, den Bodybuilder, die Roma, die Muslimin, den Juden, den Hippie, den Marijuana-Fan, den Straßenkünstler … jeder hat eine einzigartige Geschichte.«
Los ging es im Jahr 2000 beim Roskilde-Festival, wo es neben dem Musikprogramm auch noch ein Forum für ungewöhnliche Begegnungen geben sollte. Das allererste »Buch« der Human Library, ein Polizist namens Erik, traf dort auf drei Antifaschisten, die bei Demonstrationen schlechte Erfahrungen mit den »Bullen« gemacht hatten und nun wissen wollten, wieso er Polizist geworden war. Der Polizist wiederum war begeistert, dass er endlich mal in Ruhe sein Verständnis von guter Polizeiarbeit darlegen konnte. »Nach einer Stunde, denn damals waren die Gespräche noch auf zwei Stunden angelegt, kam ein Freund der drei dazu, angetrunken und auf Krawall gebürstet«, erzählt Abergel. »Weißt du, wer den Polizisten in Schutz nahm? Bevor Erik reagieren konnte, hatten ihn schon die drei Demonstranten in Schutz genommen und sagten zu ihrem Freund: Du kennst den Mann doch gar nicht, aber wir kennen ihn. Nach einer Stunde!« Da wusste Abergel: Es funktioniert. Man muss nur gute Bücher finden, aber das ist bei bald acht Milliarden Menschen nicht schwierig.
Inzwischen ist Abergel auch selbst ein »Buch«, nachdem seine Frau mit 37 Jahren unerwartet an Herzversagen starb und ihn mit zwei kleinen Kindern zurückließ. »Das war mein Ground Zero«, sagt er und fasst sich an die Brust, als täte es dort körperlich weh. »Das war ein enormes Stigma. Die Leute wissen nicht, was sie zu dir sagen wollen, also sagen sie gar nichts. Es war schrecklich. Ich fühlte mich, als sei es an mir, den anderen die Verlegenheit zu nehmen, dabei lag ich doch selber am Boden.«
Abergel sorgt sich sehr darum, dass teilnehmenden Personen gut behandelt werden. Alle werden darin trainiert, Grenzen zu setzen, respektlose Fragen zu kontern, und sie können sich zurückziehen, wenn es zuviel wird. Geschulte »Bibliothekare«, inzwischen 25 Festangestellte und unzählige Freiwillige, sprechen mit »Lesern« und »Büchern«, schreiten ein, wenn ein Leser respektlos wird, und ein geschulter Psychologe steht rund um die Uhr zur Verfügung, wenn ein Gesprächspartner eine Unterhaltung nochmal nach Bibliotheksschluss verdauen muss.
Oft zieht ein Thema diejenigen an, die aus sehr persönlichen Gründen mehr darüber wissen wollen. Typisches Beispiel: Die Mutter, deren Sohn sich gerade als schwul geoutet hat und die nun einem Schwulen all die Fragen stellen will, die sie ihrem Sohn nicht zu stellen traut.
Abergel schließt nur Menschen aus, die gewalttätig sind, missionieren wollen oder die Bibliothek mit Psychotherapie verwechseln. »Wenn du mit dem Finger auf andere zeigen und hassen willst, dann stehen dir 800 andere Plattformen offen, aber unsere nicht.« Das Ergebnis sind Begegnungen, wie man sie sich eigentlich ständig im Alltag wünschen würde: offen, respektvoll, mit Bezug zu den Dingen, die viele Mnschen im Leben betreffen und ihnen wichtig sind. »Wir reden nicht mehr miteinander«, diagnostiziert Abergel. »Meine Vision ist, dass es die Human Library eines Tages nicht mehr geben muss, weil wir uns wieder trauen, uns zwischenmenschlich zu verständigen. Aber in unserem Alltagstrott und in den Begegnungen, die wir im öffentlichen Raum haben, fehlen die Gelegenheiten dafür.«
Durch die Pandemie wurden die Begegnungen im letzten Jahr überwiegend ins Internet verlagert. Das sei zuerst ein Schock gewesen, schließlich sei die persönliche Begegnung das Herz der Bibliothek gewesen, aber tatsächlich verdoppelte sich so die Zahl der »Lesungen«, und der Klempner aus Kenia ist nun befreundet mit dem Künstler aus Bangladesch. Einige lokale Bibliotheken trafen sich aber auch weiter in persona, draussen im Grünen, mit Abstand und Maske. Und gerade jetzt sind die menschlichen Bibliotheken auch ein sanfter Weg, sich zurück ins soziale Fahrwasser zu wagen. »Geht mir selbst ja auch so«, gesteht Abergel. Obwohl er eigentlich ein kommunikativer Mensch sei, von dem sein 10-jähriger Sohn verblüfft sage, er könne »mit allen und jedem« ins Gespräch kommen, habe er bei der ersten großen Geburtstagsfeier mit 80 Leuten vor ein paar Wochen immer wieder mal rausgehen müssen.
Die »Bücher« haben ein eigenes Netzwerk, »Bookdepots«, wie Ronni Abergel das nennt, und sind meist viele Jahre dabei. Alle Gespräche sind kostenlos. Oft zahlt der Veranstalter, vielleicht eine Schule oder eine Begegnungsstätte, die Anreise und stellt Snacks zur Verfügung, aber alle Personen in der Human Library sind unbezahlte Freiwillige. Staatliche Förderung bekommt die gemeinnützige Organisation keine, deshalb finanziert Abergel die kostenlosen Events seit kurzem mit Veranstaltungen für große Firmen wie Microsoft oder Amazon. Sogar der Chemiegigant Bayer hat gerade Interesse bekundet. Und auch da, sagt Abergel, gehe es darum, Vorurteile abzubauen. Wie sein T-Shirt schon sagt: Unjudge someone. Wenn jemand sich nicht bei Bayer befragen lassen will, wird es natürlich nicht erzwungen. Für ihn seien diese Gastgeber aber auch ein Weg, die traditionelle Arbeitswelt für andere Menschen zu öffnen, »für Behinderte, für Menschen mit Depressionen, für bunte Vögel.«
Ehrlich gesagt war ich als Journalistin etwas skeptisch. Schließlich rede ich häufig mit interessanten Menschen, oft auch mit stigmatisierten Minderheiten oder Flüchtlingen. Aber mein erstes »Buch« war eine ungemein sympathische Architektin und abstrakte Künstlerin, Alma Faham. In Kuwait geboren mit einem syrischen Vater und einer jordanischen Mutter, zog sie im ersten Golfkrieg erst nach Syrien, dann nach Griechenland, und inzwischen lebt sie in Connecticut. Die eloquente Frau, die ohne Zögern und frappierend ehrlich alle Fragen über ihre Kunst, ihre Religion und ihre Weltumwanderung beantwortete, lieferte zugleich auch einen sehr persönlichen Grund für die menschliche Bibliothek. »Das Problem waren immer die Vorurteile«, sagt sie. »Sobald ich sage, dass ich aus dem Mittleren Osten stamme, entscheiden die Leute, mich in eine bestimmte Kategorie zu stecken. Das traurige ist, dass ich auch in meiner Heimatstadt als Fremde gelte, weil ich so lange woanders gelebt habe.«
Das ist dann eben auch etwas einzigartiges: keine Interview-Situation oder Talkshow, in der sich der Gesprächspartner möglichst gut der Öffentlichkeit präsentieren oder ein neues Produkt verkaufen will, sondern ein intimes Gespräch, das privat bleibt und in dem das »Buch« sich einfach öffnet und einlädt: Fragt mich alles.
Zu den »Büchern«, die Abergel besonders in Erinnerung geblieben sind, zählt ein Inzest-Opfer. Einer der »Leser« war ein verurteilter Pädophiler, der sich auch so vorstellte. »Ich verstehe, wenn du nicht mit mir sprechen willst«, setzte er gleich zu Beginn an, »aber ich will wissen, wie ich das Leid mindern kann, das ich meinem eigenen Kind zugefügt habe.« Die befragte Person entschied sich für das Gespräch, erzählte offen von den schwerwiegenden Folgen des Missbrauchs und half dem Pädophilen, die Seite der Opfer besser zu verstehen. Der hatte einen spezifischen Grund, in die Human Library zu kommen: »Ich bin hier, weil ich niemand anderen habe, den ich um Rat fragen kann.«