»Ich glaube an die abschreckende Wirkung solcher Urteile«

Können die Gerichte das Klima retten, wenn Politiker versagen? Ein Gespräch mit dem Unternehmer Johannes Wesemann, der den brasilianischen Präsidenten Bolsonaro wegen der Abholzung des Regenwalds vor dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verantwortung ziehen möchte.

Johannes Wesemann (rechts) und Wolfram Proksch von der österreichischen NGO AllRise vor dem Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Am 12. Oktober wurde dort ihre Klage eingereicht.

Foto: AllRise

SZ-Magazin: Sie haben mit der österreichischen NGO AllRise Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro und mehrere seiner Kabinettsmitglieder beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angezeigt. Was genau werfen Sie Bolsonaro vor?
Johannes Wesemann:
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unter seiner Führung wird die Zerstörung des brasilianischen Regenwalds vorangetrieben. Wir werfen ihm vor, dass er mit Massenabholzung einen Prozess beschleunigt, der zu einer vorsätzlichen und völligen Zerstörung des Regenwaldes führt und katastrophale Konsequenzen für die Zivilbevölkerung und das Weltklima nach sich zieht.

Wie berechnen Sie den Schaden?
Da konzentrieren wir uns auf die Auswirkungen der Abholzung aufs Klima. Konkret bezichtigen wir ihn, für 1,7 Milliarden zusätzliche Tonnen Kohlendioxid-Emissionen verantwortlich zu sein, die in den nächsten 80 Jahren zu bis zu 180.000 zusätzlichen Hitzetoten führen werden.

Wer steckt hinter Ihrer Organisation AllRise?
Wir arbeiten mit brasilianischen Umweltschützern zusammen, mit Völkerrechtlern, einem juristischen Team mit jahrelanger Erfahrung am Internationalen Gerichtshof und anderen internationalen Gerichten, vor allem aber auch mit renommierten Expertinnen wie der Klimatologin Friederike Otto von der Oxford Universität, die auch den jüngsten Bericht des Weltklimarats mitverfasst hat. Auf globaler Ebene belegen wir mit unserer 300 Seiten umfassenden Anzeige erstmals wissenschaftlich den Schaden. Auch die Deutsche Umwelthilfe unterstützt unsere Anzeige.

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Sie sind ursprünglich Unternehmer und haben zuletzt den Fahrdienst Uber in Österreich aufgebaut. Was hat Sie dazu bewogen, die Kampagne »Der Planet gegen Bolsonaro« zu starten?
Ich würde mich auch jetzt nicht als Umweltaktivisten bezeichnen, aber mich hat immer schon interessiert, bestehende Systeme in Frage zu stellen und die Schwachstellen zu testen. Das ist der rote Faden: Bei Uber war es ebenfalls so, dass ich ein großes Interesse daran hatte, diese völlig verkorkste Taxi-Industrie mit einem extrem innovativen Produkt herauszufordern. Uber hat ein Produkt entwickelt, das total krass war. Heute sehe ich das Unternehmen zwar kritischer, denn Uber funktioniert auf dem Rücken der Fahrer. Aber so ein Umbruch führt auch zu Veränderungen, wie jetzt bei AllRise auch. Ich dachte ursprünglich, ich mache diese eine Kampagne, dann gehe ich wieder nach Hause und häkle. Aber diese Arbeit hat mich nachhaltig verändert.

Inwiefern?
Ich gehe nicht häkeln. Ursprünglich hatten wir nur dieses eine Projekt geplant. Aber inzwischen sehe ich, dass sich die gesamte Industrie verändern muss. Es gibt viele Bolsonaros und ganz viele katastrophale Zustände und Entscheidungen. Ich glaube auch, dass es wichtig ist, dass Umweltorganisationen aus dieser grünen NGO-Schmuddelecke rauskommen. Wir brauchen Unternehmer mit der Mission von NGOs, die genau diese Sprache sprechen; die wissen, wie man Gerichte miteinbezieht, wie man über Geld spricht und solche Vorhaben finanziert.

»Unsere Gesetze sind teilweise Jahrzehnte alt, sie sind nicht entwickelt worden, um einer Klimakrise zu begegnen«

Wie sehen Sie die Chancen, dass der Internationale Gerichtshof Ihre Anzeige aufgreifen wird?
Extrem positiv. Erstens hatten wir im April das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Bundesregierung dazu brachte, beim Klimaschutz nachzubessern. Das Thema ist einfach heiß. Es ist in der Gesellschaft angekommen. Die UN hat ein gesundes Klima zum Menschenrecht erklärt. Zweitens haben wir mit Karim Khan in Den Haag einen neuen Chefankläger, der einen Gerichtshof übernimmt, der unterfinanziert, unterbesetzt und hinsichtlich menschengemachter Umweltzerstörung und Klimawandel teilweise nicht mehr zeitgemäß ist. Man kann schon annehmen, dass er das Thema Umwelt heranziehen wird, um diesen Gerichtshof neu zu kalibrieren. Aus genau dem Grund haben wir eben auch diese Kampagne gestartet, weil wir die Öffentlichkeit mit einbeziehen wollen. Wir haben in sieben Wochen mit unserer Petition mehr als 50.000 Unterschriften aus der ganzen Welt bekommen. Die Gerichte werden sich in Zukunft der Öffentlichkeit gegenüber rechtfertigen müssen, wie wissentliche Umweltzerstörung juristisch bewertet wird.

Ihre Anzeige ist nicht die einzige, die gegen Bolsonaro vor dem Den Haager Gerichtshof eingereicht wurde. Was halten Sie von den anderen?
Letztendlich hat eine solche Anzeige die Aufgabe, die Aufmerksamkeit des Chefanklägers auf eine Situation zu lenken. Da ist es am besten, es gäbe 20 solcher Anzeigen. Wenn der Chefankläger eine Untersuchung beantragt, schließt er in der Regel alle verwandten Anzeigen zu einem Fall zusammen.

Nehmen wir mal an, Sie sind erfolgreich und gewinnen. Wie wollen Sie so ein Urteil in Brasilien durchsetzen?
Der Strafgerichtshof müsste es am Ende durchsetzen. Aber ich glaube an die abschreckende Wirkung solcher Urteile. Das ist unser vorrangiges Interesse: Wenn der Strafgerichtshof die Anzeige annimmt, schaffen wir einen Präzedenzfall. Das wird auch Auswirkungen haben auf andere Gerichtshöfe. Und das streben wir an. Es ist eine große Schwachstelle des Internationalen Strafgerichtshofs, dass er nur gegen Personen vorgeht, nicht gegen Staaten oder Unternehmen. Deswegen gibt es ja auch Bemühungen, einen neuen Strafgerichtshof ins Leben zu rufen, für Umweltverbrechen. Ein kluger Mann hat mal gesagt: »Es gibt nichts, was unsere Aufmerksamkeit so schärft wie die Sorge, ins Gefängnis zu kommen.«

Der Spruch stammt vom britischen Juristen Philippe Sands, der mit seiner NGO Stop Ecocide erreichen will, den »Ökozid«, also schwere Umweltverbrechen, als ähnlichen Straftatbestand wie Genozid zu etablieren,. Was halten Sie davon?
Ein toller Mann. Am Ende des Tages wird der Strafgerichtshof nicht darum herumkommen. Aber um Ökozid als neuen Straftatbestand aufzunehmen, brauchen sie zwei Drittel der 123 Mitgliedsstaaten. Das dauert Jahre. Deswegen testen wir erst einmal, ob das bestehende Recht ausreicht.

Wie geht es weiter?
Wir sammeln in den nächsten Monaten weitere Beweise und reichen sie nach. Und wir müssen uns auch die Nachfrageseite anschauen. Wir kennen den Beitrag der Autobauer, die Leder für ihre Sitzbezüge von Produzenten aus dem Amazonas kaufen, welche dafür den Regenwald abholzen, obwohl das überhaupt nicht mehr notwendig ist. Wir kennen den Beitrag der Fleischindustrie. Und was mich als Unternehmer besonders interessiert, ist der Beitrag der gesamten Finanzindustrie an der Zerstörung des Regenwaldes. Banken und Vermögensverwalter haben in den fünf Jahren nach dem Pariser Abkommen 2015 Finanzierungen in Höhe von über hundert Milliarden Dollar an 20 große Agrarunternehmen vergeben, die mit der Abholzung von Wäldern in Verbindung stehen. Obwohl viele Banken freiwillige Verpflichtungen zur Entwaldung und zum Klimawandel eingegangen sind, unterhalten sie weiterhin Beziehungen zu Unternehmen, die an der Entwaldung beteiligt sind. Das Problem besteht darin, dass es an einer rechtlichen Verpflichtung der Banken fehlt, ihre Praktiken zu ändern.

Warum versuchen Sie es nicht über den politischen Weg? Müssen die Gerichte eingreifen, weil die Politik versagt?
Ich glaube, es ist zu billig und auch nicht sinnvoll, die Verantwortung ausschließlich der Politik zuzuschreiben. Der traurigste Beleg dafür ist das Resultat der COP 26 in Glasgow. Das war eine PR-Veranstaltung. Die Politik ist überfordert. Das liegt auch an dem politischen Geschäft, der Komplexität der Materie und den Abhängigkeiten. Aus dem Grund ist die Zivilgesellschaft gefragt und gefordert, zumindest Alternativen aufzuzeigen.

Ist es demokratisch, die Gerichte anzurufen?
Ja, weil sie ein ganz zentrales Element der Demokratie und unserer Gesellschaft sind. Wir haben nicht mehr die Zeit zu debattieren. Aus meiner Sicht ist das einzige Instrument, das unverhandelbare Ergebnisse zeitigt, der Richterspruch. Unsere Gesetze sind teilweise Jahrzehnte alt, sie sind nicht entwickelt worden, um einer Klimakrise zu begegnen. Wir als Gesellschaft müssen jetzt die Gesetze testen: Reicht das Römische Statut, auf das sich der Strafgerichtshof bezieht, obwohl Umweltverbrechen als Straftatbestand darin so noch nicht enthalten sind? Ja oder nein? Wenn das Gericht sagt, dafür sind wir nicht zuständig, dann muss über das Statut gestritten werden. Wir wissen alle, dass der Klimawandel menschengemacht ist und die ganze Welt betrifft. Daher ist das Thema so spannend. Umweltgesetze betreffen unsere gesamten Grundrechte. Das wird auch den Rechtsstaat nachhaltig verändern. Nicht morgen, aber übermorgen.