Marco Wendt erinnert sich noch genau an den Moment, als sich zum ersten Mal ein Kondor-Ei in seiner Hand bewegte. »Ich hatte die Nachtschicht übernommen, um das Ei zu beobachten«, sagt der Vogelexperte. Auf einmal spürte er etwas im Inneren des Eis. »Ein winziger Riss tauchte auf«, sagt er mit einem breiten Grinsen, »das erste Zeichen, dass sich hier ein Küken seinen Weg bahnt. Ich hielt das Ei so behutsam, wie ich nur konnte, weil es so unglaublich kostbar ist.« Da Kondormütter normalerweise nur alle zwei Jahre ein Ei legen, sind ihre Eier wertvoller als die meisten anderen Vogeleier. »Wenn ein Ei kaputtgeht oder nicht befruchtet ist«, erklärt Wendt, »hat das Folgen für den ganzen Bestand, denn damit wir verlieren ein ganzes Jahr.«
Vor Hunderten Jahren glitten Tausende von Kalifornischen Kondoren durch die Himmel Nordamerikas. Aus Fossilfunden weiß man, dass die Kondore sogar im heutigen New York und Florida vorkamen, und bis runter nach Mexiko. Aber als Marco Wendt 1982 geboren wurde, waren nur noch 22 Kalifornische Kondore am Leben. Der US Fish and Wildlife Service (FWS) traf deshalb Mitte der Achtziger Jahre eine kontroverse Entscheidung: Die Behörde fing alle noch lebenden Kondore ein – um sie zu retten. (Nicht zu verwechseln ist der Kalifornische Kondor übrigens mit dem in Südamerika beheimateten Andenkondor, dessen bestand zwar ebenfalls zurückgegangen ist, der im Hochgebirge der Anden aber weiterhin aus eigener Kraft überleben kann.)
Inzwischen fliegen wieder 537 Gymnogyps californiani über amerikanische Berge und Wälder, davon 334 in Freiheit, mit dem markanten Flügelschlag, der ihnen den Spitznamen »Donnervögel« einbrachte. Die unverwechselbaren Vögel breiten sich langsam wieder aus – von der Küste Kaliforniens über Arizona bis nach Mexiko. Dutzende von Tierschutzorganisationen, Hunderte von Wissenschaftlern und Genetikern, mehrere Zoos und indigene Völker haben zusammengearbeitet, um den Niedergang dieser Giganten aufzuhalten. Aber der Kampf um ihr Überleben ist noch nicht zu Ende. Ähnlich wie beim großen Bartgeier-Projekt, das der bayerische Landesbund für Vogelschutz 2021 im Nationalpark Berchtesgaden gestartet hat, bleiben die seltenen Vögel bedroht.
Die Kondore gelten als »Schlüsselart«, so erklärt Marco Wendt die Motivation hinter dem viele Millionen Dollar teuren Rettungsprojekt. »Sie sind die größten fliegenden Vögel Nordamerikas.« Indigene Völker verehrten die Tiere seit jeher als Symbole der Kraft und auch wegen ihrer Intelligenz und ihres ausgeklügelten Sozialsystems. Die Inka glaubten gar, Kondore brächten die Seele der Toten aus dem Jenseits zurück.
Im Augenblick liegen elf Eier im »Kondorminium«, wie Wendt die Zuchtstation nennt, die sein Arbeitgeber betreibt, die San Diego Zoo Wildlife Alliance. Es ist ein abgeschiedenes Gebäude in einer hinteren Ecke des 730 Hektar großen Safari Parks. Tecuya, die gut zehn Kilo schwere Kondor-Seniorin, wacht auf ihrem Mesquite-Baum aus dem Mittagsschlaf auf und reckt ihren nackten, pinkfarbenen Kopf in die Sonne. Die jüngeren Kondore, wie Eva neben ihr, haben noch die schwarzen Köpfe, die sich erst nach der Pubertät, also nach drei bis vier Jahren, langsam rosa färben. Eva hat eine typische Kondor-Biografie: Tierschützer retteten sie als vier Monate altes Baby, nachdem ihre Mutter an einer Bleivergiftung gestorben war und ein Waldbrand das Nest nahe der kalifornischen Küstenstadt Big Sur bedrohte.
Damit sind wir schon bei den Gründen, die den gefiederten Riesen fast den Garaus machten, obwohl sie außer dem Menschen keine natürlichen Feinde haben: Neben der Bedrohung ihres Lebensraums und Kollisionen mit Stromleitungen ist es vor allem bleihaltige Jagdmunition, die Kondore das Leben kostet. Weil die Aasfresser sich fast ausschließlich von toten Tieren wie Hasen, Rehen oder Füchsen ernähren, auch solchen, die von Jägern erlegt wurden, werden sie leicht durch Bleireste getötet; Rattengift und Umweltgifte wie DDT sind ebenfalls höchst gefährlich für sie. Es kann sogar sein, dass sie Flaschendeckel oder Glasscherben für Knochenstücke halten und an ihre Jungen verfüttern.
1988 schlüpfte im Zoo von San Diego das erste gesunde, in Gefangenschaft geborene Kondorküken, Molloko. Dieser Kondor lebt bis heute im Zoo und ist laut Wendt ein »super Daddy,« der bisher 31 Nachfahren zeugte, von denen fast alle ausgewildert wurden. Kondore werden bis zu 60 Jahre alt, und wie viele langlebige Tiere entwickeln sie sich langsam. Sie werden erst mit sechs Jahren fortpflanzungsfähig, danach legen die Weibchen nur alle zwei Jahre ein Ei. Deshalb wenden Wendt und seine Kollegen eine List an: Sie nehmen den Weibchen sofort die Eier weg und motivieren sie damit häufig, noch eins zu legen. Das erste Ei kommt in den Brutkasten, während das Kondorpärchen das zweite Ei selbst ausbrütet.
Mit viel Geschick imitiert Marco Wendt die grunzenden, zischenden Laute, mit denen die Vögel kommunizieren. Bereits als Kind war er vom Dschungelbuch begeistert, allerdings störte er sich schon damals daran, »dass die Geier als böse beschrieben wurden, als niederträchtige Tiere, die nur darauf warten, dass andere sterben.« Nach 20 Jahren im Zoo weiß er, dass das genaue Gegenteil wahr ist: »Sie sind Wunderwerke der Natur und unersetzlich fürs Ökosystem, weil sie die Putztruppe sind, die aufräumt. Sie verhindern zum Beispiel, dass sich tödliche Krankheiten ausbreiten und können sogar an Tollwut gestorbene Tiere fressen, ohne selbst an Tollwut zu erkranken.«
Wenn man Wendt fragt, was ihn in den 20 Jahren am meisten an den Kondoren überrascht hat, dann sagt er: »Ihre Zärtlichkeit. Diese Riesenviecher könnten ohne weiteres mit ihren wuchtigen Schnäbeln die dicke Haut eines Wals aufreißen, aber mit ihren Küken sind sie so unglaublich zärtlich und vorsichtig.« Wie zum Beweis zeigt er auf die graue Babykondor-Feder, die an seinem Safarihut steckt. Die sei von Suyana, erklärt er stolz, »einem der ersten andischen Kondorküken, das ich aufzog.« Als er den Zoo für ein Jahr verließ, rechnete er nicht damit, dass sie ihn bei seiner Rückkehr wiedererkennen würde. »Aber sobald ich das Atrium betrat, kam sie mir ganz aufgeregt entgegen gelaufen und flatterte wild mit ihren Flügeln.«
Die traurige Wahrheit lautet weiterhin: Ohne menschliche Unterstützung hätten die Kondore keine Chance
Weil die Vögel sich eng an Menschen binden, dürfen nur die Jungtiere, die keine Chance auf Auswilderung haben, mit den Tierpflegern interagieren. Alle anderen bekommen nie ein menschliches Antlitz zu Gesicht. Die Wärterinnen und Wärter beobachten die Nester nur durch Kameras oder kleine Fenster. Wenn ein Küken Zusatznahrung benötigt, verbergen die Pfleger ihr Gesicht und stülpen sich eine Puppe mit einem Kondorkopf über die Hand, um die Jungvögel zu füttern.
Zu solchen Erkenntnissen kam der Zoo erst nach und nach. Als die ersten Kondore in die Freiheit entlassen wurden, kamen sie ständig zu den Menschen zurück, um um Futter zu betteln. Die Waisen nur mit Puppen großzuziehen, funktionierte aber auch nicht, denn Kondore sind sehr sozial und lernen von ihren Artgenossen. Die Kondore, die ohne Eltern aufwuchsen, verhedderten sich nach ihrer Auswilderung oft in Stromleitungen, verwüsteten Gärten und hatten Schwierigkeiten, Nahrung zu finden. Inzwischen werden heranwachsende Kondore viele Monate lang von erwachsenen Kondor-»Mentoren« geschult, bevor sie in die Freiheit entlassen werden. »Wir mussten sehr viel lernen«, gibt Wendt zu.
Auch über die Kondore hinaus ist Artenschutz ein wichtiges Thema im Zoo von San Diego. Die San Diego Zoo Wildlife Alliance war maßgeblich daran beteiligt, mehr als 44 vom Aussterben bedrohte Arten wieder in ihren Ursprungsgebieten auszuwildern. Viele von ihnen wurden im Zoo, im Safari Park oder in einer der fünf Wildtierstationen des Zoos aufgezogen. Der Zoo unterhält außerdem eine große Samenbank, in der Genmaterial vieler vom Aussterben bedrohter Arten aufbewahrt wird.
Durch genetische Analysen haben Biologen wichtige neue Erkenntnisse über Kondore gewonnen. Die Gene aller gut 900 Kondore, die im Lauf der Zeit Teil des kalifornischen Kondor-Projekts waren, wurden von den Genetikern im San Diego Zoo analysiert. Dadurch wissen die Experten genau, welches Küken welche Eltern hat, und sie konnten auch feststellen, dass sich Kondore durchaus Seitensprünge erlauben und nicht in eheartigen Beziehungen leben, wie man bisher glaubte. Manche erziehen ihre Küken sogar als Trio. Die Gentests sind schon allein deshalb notwendig, weil sich weibliche und männliche Kondore äußerlich nicht unterscheiden. Nur durch die Tests wissen die Wissenschaflter, welche Paarungen Küken hervorbringen können. Und selbst da erlebten sie eine Überraschung: Letztes Jahr entdeckten die Genetiker zwei Küken, die ohne Vater gezeugt wurden, sogenannte »Jungferngeburten« (Parthogenese).
Wissenschaftler wie Wendt nennen das »eine Sensation«, zumal die Weibchen im Zoo männliche Partner zur Verfügung gehabt hätten. Hatten die Weibchen diesmal einfach keine Lust? »Wir machen alle gerne Witze darüber«, sagt Wendt, »aber die Wahrheit ist: Wir wissen einfach nicht, warum. Wir lernen immer noch ständig dazu.« Möglich ist auch, dass die Parthogenese in freier Wildbahn öfter vorkommt als vermutet, man es nur bisher bei vielen Arten nicht entdeckt hat, denn wer analysiert sonst schon die Gene aller existierenden Exemplare?
Der Hauptgrund für das aufwändige Gentest-Programm ist aber, die genetische Vielfalt und damit das Überleben der Kondor-Population zu sichern. In den 22 Exemplaren, die anfangs noch übrig waren, identifizierten Genetiker 13 genetische Linien. Seither werden die Paarungen sehr genau geplant, um die größtmögliche genetische Vielfalt zu erzielen. Nur die Kondore, die nicht ausgewildert werden, bleiben im Zoo und dürfen Menschen begegnen: »als Botschafter«, wie Wendt sagt, »denn erst wenn die Zoobesucher die Gesichter der Kondore sehen und den Wind hören, wenn sie mit den Flügel schlagen, verstehen sie wirklich, wie besonders diese Vögel sind.«
Denn die traurige Wahrheit lautet weiterhin: Ohne menschliche Unterstützung hätten die Kondore keine Chance. »Der Bestand würde sofort zusammenbrechen«, sagt Wendt. Immer noch legen die Tierschützer regelmäßig giftfreies Fleisch nahe den Kondor-Nestern aus. Ähnliche Sorgen kennen die Vogelschützer in Bayern, die im Sommer 2021 die ersten Bartgeier auswilderten. Jeder Tod eines seltenen Vogels durch eine Bleikugel oder auch durch eine natürliche Ursache, wie die Steinlawine, die wohl Bartgeier Wally tötete, ist ein schwerer Schlag für den Artenschutz.