Eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass der steigende Meeresspiegel drei Mal so viele Menschen vertreiben wird als bisher angenommen. Was müssen Städte jetzt unternehmen? Wie können sich Menschen in Küstenregionen schützen? Die Landschaftsarchitektin Kristina Hill, Professorin für städtische Ökologie an der UC Berkeley, kooperiert mit dem Climate Readiness Institut, um innovative Lösungen für den Klimawandel zu finden. Sie war unter anderem an den Strategien zum Flutmanagement nach Hurrikan Katrina 2005 in New Orleans beteiligt und arbeitet mit Experten in Europa und Amerika zusammen, um Küstenregionen zu retten.
SZ-Magazin: Wie akut ist das Problem?
Kristina Hill: Wirklich dringend. Wir müssen uns auf einen Meeresspiegelanstieg von drei Metern vorbereiten, vielleicht sogar mehr. Wir wissen nicht genau, ob das schon in den nächsten 35 Jahren passiert oder länger dauert, aber dass es passiert, ist sicher. Wir haben das Ticket für diese Achterbahnfahrt schon gelöst, weil soviel CO2 in der Luft ist. Also müssen wir jetzt Maßnahmen ergreifen. Mein Job ist, dafür realistische Strategien zu entwerfen.
Ich wundere mich, wie wenig das Thema die Leute beschäftigt. Sind wir wie die Frösche im Kochtopf, die nicht merken, dass die Wassertemperatur langsam steigt – bis es zu spät ist?
Es gibt die Frösche im Kochtopf, aber es gibt auch Menschen, die dir ein Ticket zum Schwimmen in diesem Wasser andrehen wollen. Makler wollen Häuser in Küstennähe verkaufen, deshalb werden Informationen unterdrückt und abgewertet, obwohl sie für die Entscheidung, ein Haus zu kaufen oder zu verkaufen, enorm wichtig wären. In Kalifornien steht auf 200 Seiten, was Makler alles offenlegen müssen, aber Meeresspiegelanstieg und Grundwasserflutung gehören nicht dazu. Also denken sich die Leute: So schlimm wird es schon nicht sein.
Sie haben sich in den letzten Jahren vor allem auf das Risiko durch Grundwasser konzentriert. Warum?
Das Problem des Meeresspiegelanstiegs wird doppelt so schlimm wie der Climate Central Report annimmt, weil die Forscher das Grundwasser nicht mit eingerechnet haben. In vielen Küstenstädten wird das Grundwasser doppelt soviel Gelände überschwemmen wie die Meeresflut, denn wenn der Meeresspiegel steigt, kann er auch das Grundwasser nach oben drücken – und zwar auch in Gegenden, die bislang als sicher galten. Wenn wir diesen Umstand nicht in unsere Planungen einbeziehen, können wir Millionen und Abermillionen mit dem Bau von Dämmen verschwenden, die diese Art von Überschwemmungen aber nicht verhindern. Was für eine Verschwendung von Ressourcen!
Ihre Forschung zielt darauf, nachhaltige Lösungen für Küstenregionen zu entwickeln. Im Augenblick werden aber vor allem zwei Methoden praktiziert: Dammbau und Rückzug.
Auf der ganzen Welt begegnet mir dieses polarisierte Denken, wenn wir über Strategien sprechen. Die Leute sagen: Sollen wir nicht Mauern bauen wie in New Orleans? Als sei eine Stadt eine Festung, die Mauern braucht. Oder müssen wir die Küste aufgeben? Ich glaube, beides sind meist die falschen Lösungen, es gibt viele Wege dazwischen.
Was ist falsch daran, sich mit Dämmen und Mauern gegen das Meer zu schützen? In New York überlegt man ja zum Beispiel gerade, für 119 Millarden Dollar eine Mauer um halb Manhattan zu ziehen.
Durch die Mauern verliert man nicht nur wertvolle Flächen, sondern die Menschen werden von ihrer Umwelt abgeschnitten. Viele Menschen in New Orleans sehen das Wasser nicht mehr, seit die Mauern gebaut wurden. Man verliert das Bewusstsein für seine Umgebung. New Orleans wird ohnehin nur notdürftig mit Stöckchen und Pflastern zusammengehalten. Wenn ein Damm bricht, werden die niederen Lagen überschwemmt. Eine größere Katastrophe könnte die fragile Infrastruktur zerstören. Die Hafencity Hamburg dagegen hat in den am meisten gefährdeten Bereichen wasserfeste Erdgeschosse gebaut, mit wasserdichten Garagen und Verbindungswegen im ersten Stock. Besonders gut gefällt mir, dass die Wege breit genug sind für einen Notarztwagen. Das ist richtig schlau. Die Leute sehen, wenn die Flut kommt, sie sehen den Wasserpegel steigen und fallen. Das macht uns klüger und verbindet uns mehr mit der Natur. Die Hafencity wäre ein exzellentes Modell für New York oder Charleston.
Wie können die Anwohner mehr in die Planungen mit einbezogen werden?
Das ist schwierig, auch weil die meisten Menschen, denen Küstenimmobilien gehören, über 50 oder 60 sind. Wenn wir mit denen über die Zukunft reden, hören wir: Bis dahin bin ich im Altersheim. Sie übernehmen keine Verantwortung.
Was erwidern Sie?
Ich zeige ihnen, was passiert, zum Beispiel anhand der Geschehnisse auf der Hollandinsel in der Chesapeake Bay, Maryland. Das Meer stieg dort um einen knappen Meter, die Häuser fielen buchstäblich ins Wasser. Da lebten Hunderte von Menschen, nun ist es Sumpfgebiet. Es war sehr dramatisch, sehr ergreifend. Die Emotionen, die dieser Wandel und Verlust hervorrufen, sind riesig und ein wichtiger Aspekt, wenn wir über Adaption nachdenken. Wir können nicht einfach so blauäugig sein und sagen, das wird schon alles gutgehen.
Fast überall auf der Welt wussten die Ureinwohner: Bau nicht direkt am Ufer. Ist es vielleicht grundsätzlich problematisch, nah am Meer zu leben?
Das ist eine gute Frage. Unsere Faszination mit dem Meeresufer ist kam erst im 19. Jahrhundert auf, als die Strände plötzlich als Erholungsgebiet beliebt wurden. Davor galten Strände und Sumpfgebiete im Wesentlichen als unnütz, weil man dort nichts anbauen konnte. Inzwischen aber geht es längst nicht nur um Privathäuser, sondern um die Infrastruktur. Wer schützt den Pacific Coast Highway? Oder die große Kläranlage in der Bucht von San Francisco?
Aber für einige Städte ist der Rückzug unausweichlich, oder? Im kalifornischen Del Mar entschied die Küstenkommission gerade, die Stadt solle sich überlegen, Küstenareale zurück zu kaufen, weil es zu gefährlich wird, direkt an der Küste zu leben.
An der Ostküste wird das schon lange praktiziert. In Nantucket muss ein Hausbesitzer sein Haus aufgeben, sobald seine Klärgrube zum Meer hin undicht wird. Die Behörden werden es versiegeln. Der Hausbesitzer muss es dann nicht nur verlassen, sondern auch mit seinem eigenen Geld den Abbau und die Entsorgung bezahlen. Die Leute verlieren also gleich mehrfach Geld: für das Haus und den Abbau. Weil die Menschen mit Strandhäusern dort eher nicht zu den ärmeren Schichten gehören, hält sich das Mitleid in Grenzen. Aber es geht auch um die Kosten für die Infrastruktur, die Straßen. Die Villen in Malibu beschützen inzwischen auch den Pacific Coast Highway, weil sie zwischen dem Meer und dem Highway liegen, und den kann Kalifornien nicht einfach ins Wasser fallen lassen. Ich kann mir kaum den Bürgermeister oder Gouverneur vorstellen, der sich vor seine Leute stellt und sagt: Ihr müsst hier weg. Ich glaube, wir müssen uns stattdessen anschauen, wie wir besser planen, Baugebiete besser entwickeln, und nicht, wie wir aufgeben. Ich sehe das positiv.
Was ist daran positiv?
Positiv daran ist, dass wir uns was einfallen lassen müssen. Wenn wir frühzeitig planen, gibt es Lösungen! Landschaften können enorm dazu beitragen, Küstengebiete an steigende Meeresspiegel anzupassen. Wenn wir diese Strategien jetzt umsetzen, gewinnen wir die 30, 40 oder 50 Jahre, die wir brauchen, um über gestaffelte Bebauungspläne für Küstenregionen nachzudenken.
Haben Sie ein Beispiel, wie das aussehen könnte?
Das »Sand Motor Projekt« in den Niederlanden ist ein wunderbares Beispiel, von dem die ganze Welt lernen kann. Die Holländer haben mit 21,5 Millionen Kubikmeter Sand eine künstliche, hakenförmige Sandbank vor dem eigentlichen Dünengürtel in Südholland aufgeschüttet. Der Sand bewegt sich mit den Wellen und dem Wind, wie ein Muskel, der tatsächlich das Ufer und die Gemeinden hinter den Dünen beschützt. Die Holländer sind keine Dummköpfe. Die haben sich genau angeschaut, was das kostet, nämlich 70 Millionen Dollar, und berechnet, dass das auf die nächsten 15 Jahre gerechnet etwa 75 Prozent weniger kostet als die Strände ständig wieder aufzuschütten, wie das etwa die Kalifornier machen. Es ist also billiger und effektiver. Für die Holländer ist das eine dauerhafte Strategie. Die haben nicht vor, das nur ein paar Jahre lang durchzuziehen und dann nach Deutschland zu ziehen.
»Für mich sind Landschaften und Gebäude eng verbundene Themen, ich finde es wichtig, sie nicht zu trennen«
Kann das auch an anderen Küsten funktionieren?
Ja, aber das »Sand Motor Projekt« ist fünf Mal größer als alles, was wir bisher in Amerika gemacht haben. Man muss die Strategie an die Wellenenergie und die Sturmzyklen anpassen. Wir planen sowas ähnliches am Ocean Beach in San Francisco, um den Highway zu schützen, der auf den Klippen verläuft. Der Sand wird am südlichen Ende deponiert, von den Wellen nach Norden getragen und dort wieder aufgefangen und an das südliche Ende gebracht. Eine Art von Sisyphus-Operation für den Küstenschutz. Man muss aber bereit sein, das in der Dimension zu machen wie die Holländer. Wenn man zu wenig Sand aufschüttet oder zu feinkörnigen Sand nimmt, ist das, als werfe man eine Handvoll Sand auf die Windschutzscheibe und schalte die Scheibenwischer ein: Das fliegt sofort wieder weg.
Gerade Umweltschützer haben aber vehement gegen die Sandaufschüttungen protestiert. Die Fischer in Nantucket zum Beispiel sagten, die Sandaufschüttungen zerstörten die Fischbestände.
An der Ostküste gab es Protest, vor allem in Martha’s Vineyard vor Cape Cod, weil da Wale leben. Der Sand im seichten Wasser ist eine Futterquelle, weil darin viele kleine Organismen leben. Aber viele dieser Habitate verändern sich ohnehin durch die Klimaerwärmung. In Kalifornien sind die Seetang-Wälder schon verschwunden. An der Ostküste lösen sie das Problem, in dem sie den Sand, den sie zum Auffüllen an andere Küstenabschnitte schaffen, in Streifen ausbaggern, nicht in großen Flächen. Das erlaubt der Fauna, sich innerhalb von sechs bis acht Monaten zu regenerieren. Studien zeigen, dass das funktioniert, so lange die Streifen nicht zu breit sind. Und man muss geeigneten Sand wählen. In Hawaii nutzten sie Korallensand, um den Strand von Waikiki aufzuschütten, dann fuhren sie mit Kipplastern drüber, walzten damit die Mineralstruktur des Sandes nieder und verwandelten ihn in Staub. Daraus wurde dann eine sehr staubige, dreckige Strandschicht. Wenn Leute den falschen Sand wählen, führt das natürlich zu negativen Schlagzeilen.
Haben Sie noch andere Beispiele, wie Landschaften die Küsten schützen können?
Für mich sind Landschaften und Gebäude eng verbundene Themen, ich finde es wichtig, sie nicht zu trennen. Es gibt Projekte in den Niederlanden, moderne Häuser direkt aufs Wasser zu bauen. In Amsterdam bauen sie innovative Eigenheime auf künstlichen Inseln wie Steigereiland. Die Fertighäuser werden mit dem Boot hergezogen, und Deiche kontrollieren den Wasserstand. Wenn doppelt soviel Land wie bisher überflutet wird, brauchen wir eine Flutstrategie, und die schwimmenden Gebäude sind eine gute Idee dafür. Wenn die Gebäude nicht einzeln schwimmen wie Hausboote, sondern verbunden werden, überstehen sie auch Erdbeben. Ich finde diese Projekte in Rotterdam und Amsterdam sehr attraktiv und inspirierend, gleichzeitig funktioniert die Wasserlandschaft aber auch als Puffer für die ganze Gemeinde.
Was halten Sie von Versuchen, die Küsten in ihren Ursprungszustand zurück zu versetzen, wie das etwa die MacArthur-Preisträgerin und Landschaftsarchitektin Kate Orff an der US-Ostküste macht? Sie wird vor Staten Island Riffe aus Austern bauen, sogenannte Living Breakwaters, die die Sturmwellen abschwächen und das Ökosystem reparieren.
Ja, wir setzen auch an der Westküste in der Bucht von San Francisco Austern und Seegras ein. Das fördert die Biodiversität und reduziert die Wellenkraft. Wie effektiv das ist, analysieren wir gerade, aber es sieht positiv aus. Indem wir Wohngebäude mit Landschaftsstrategien kombinieren, schaffen wir nachhaltige Küstenstädte. Ich glaube, dass wir sogar in Städten wie Miami leben können.
Wie das? Miami gilt als besonders anfällig für den steigenden Meeresspiegel.
Wie in einer Lagune, indem wir Kanäle anlegen. In manchen Gegenden müssen wir temporäre Strukturen errichten, die man nach Hurrikanen wieder aufbauen kann. Eine andere Idee ist, dass Deiche mit dem Anstieg des Meerespegels mitwachsen. Dazu gibt es gerade ein Pilotprojekt bei San Franciscos ältester Kläranlage, Oro Loma in South Bay. Sie versuchen, den Deich mit gereinigtem Material aus der Kläranlage weiter aufzubauen. Andere Länder wie Japan und Holland experimentieren mit Superdeichen, die nicht besonders hoch, aber besonders breit sind, so dass man darauf sogar bauen kann. Normalerweise kann man Deiche nicht einmal mit Bäumen bepflanzen, aber die Superdeiche tragen Gebäude und Infrastruktur wie Straßen. Das hat viel Potenzial, denn wir brauchen ohnehin mehr Land.
Was hilft einer historischen Stadt wie Venedig? Die gilt nach den jüngsten Überschwemmungen als dem Untergang geweiht.
Ich war in Venedig und bin mir der Tragödie bewusst. Das Problem, sich an den steigenden Meeresspiegel anzupassen, ist für historische Städte viel schwieriger, man will schließlich die Gebäude und Plätze bewahren. Aber man kann eine Stadt nicht gleichzeitig bewahren und adaptieren. Venedig hat schon seit längerem ein ungesundes Verhältnis zum Tourismus, das trägt zum Druck bei, das »historische Venedig« auf ewig zu bewahren. Die parasitäre Art des Tourismus hat die venezianische Kreativität und Kultur gelähmt. Das geht nicht, denn Venedig muss sich ändern.
Im Prinzip weiß man seit den Sechzigerjahren, dass Venedig gefährdet ist, aber der hydraulische Damm ist immer noch nicht fertig. Und wenn er 2021 endlich fertig werden sollte, ist es schon wieder veraltet.
Der MOSE-Damm war von Anfang an zu kompliziert. Die Planer schlugen zuviele riskante Innovationen vor, weil die Barriere nicht sichtbar sein sollte. Venedig hätte sich lieber am Thames Barrier orientieren sollen, dem Sturmflutsperrwerk in London. Das Sperrwerk versteckt seine Wände im Flussbett und bringt zehn architektonisch eindrucksvolle Tore in Stellung, wenn sie gebraucht werden. Aber Sperrwerke haben grundsätzlich ein Ablaufdatum. Irgendwann sind sie zu schwach und müssen ersetzt werden. Wenn jemand in Venedig die Struktur der historischen Bauten verstärken und auf schwimmbare Flächen stellen könnte, wäre das eine bessere Strategie. Die venezianischen Händler waren für ihre Risikofreude bekannt, das könnte denen gefallen.
Setzen Sie noch auf andere technischen Innovationen, die echte Lösungen versprechen?
Eine Fabrik in Pittsburgh produziert künstlichen Kalkstein aus CO2. Wenn das mal in Massenproduktion geht, haben wie ein Superbaumaterial für erdbebenfeste Superdeiche.
Einerseits arbeiten kreative Menschen an Lösungen, andererseits unterzeichnete Donald Trump 2018 eine Anordnung, die den Bundesbehörden verbietet, den Anstieg des Meeresspiegels in die Stadtplanung einzubeziehen. Wie wirkt sich das in der Praxis aus?
In Kalifornien weniger, wir hören da nicht drauf. Aber es betrifft die Umweltschutzbehörden. Konkret kenne ich hier ein Immobilienprojekt bei San Francisco auf dem Gelände einer alten Salzminenfabrik, das im Überschwemmungsgebiet liegt. Unsere regionale Umweltschutzbehörde wollte es deshalb nicht genehmigen. Dann mischte sich die Bundesbehörde ein und befahl der regionalen Behörde, das Projekt durchzuwinken. Das wird jetzt gebaut, obwohl klar ist: Das ist mit ziemlicher Sicherheit dem Untergang geweiht.
Nehmen die regionalen Städteplaner das Thema ernster?
Im Augenblick schieben die meisten Städteplaner das Thema vor sich hier. Die Entscheider sorgen sich um ihre Wiederwahl und denken, das kann ja in fünf Jahren jemand anderes machen. Wenn dann das Meer ins Haus kommt, wird es den Leuten vorkommen wie ein plötzlicher Notfall, der über Nacht eingetreten ist.
Das Interview entstand mit Unterstützung des Pulitzer Center Recherchegrants Connected Coastlines.