Blut, Schweiß und Käseschmiere

Fruchtwasser-Spritzer im Gesicht: Was viele Menschen eklig finden, bestimmt die tägliche Arbeit unserer Kolumnistin, der Hebamme. Dabei will sie den Frauen vor allem ihr Schamgefühl nehmen.

Illustration: Cynthia Kittler

Nach der Geburt in Kreißsaal 2 hatte ich extra noch gewartet, bis die Krankenschwester aus dem Personalklo auf unserer Station wieder herauskam und die Luft wenn auch nicht wieder »rein« ist, so doch zumindest der Raum menschenleer war. Aber jetzt: Sitzungsunterbrechung! Jemand ist in die Toilette gekommen und nestelt jetzt neben mir herum – das kann ich gar nicht leiden!

Auf mich trifft nämlich das Phänomen der »schüchterne Blase« zu, sprich: Ich kann nur, wenn ich alleine auf der Toilette bin. Und am liebsten hätte ich für Notfälle wie jetzt ein Radio mit dabei, damit man kein Plätschern und auch sonst gar nichts von mir hört. Was dauert denn da so lange? Während der Klositz unter mir warm wird, wird mir einmal mehr bewusst, wie groß doch die Diskrepanz ist zwischen meiner privaten Verlegenheit in dieser Hinsicht und meiner beruflichen Nichts-Menschliches-ist-mir-fremd-Haltung doch ist. Wie kann es sein, dass ich Schwierigkeiten habe zu pinkeln, wenn eine andere Frau in der Damentoilette ist, aber kein Problem damit habe, wenn mir eine Patientin unter der Geburt auf die Hand kackt?

Die Sache mit der geplatzten Fruchtblase ist ein gutes Beispiel: Es war meine letzte Geburt in der Ausbildung. Ich durfte schon fast alles alleine machen und war stolz, dass ich so profi-mäßig zurecht kam. Meine Ausbilderin hielt sich im Hintergrund. Es fühlte sich ein wenig so an wie damals, als ich mit meinem Vater nach der Führerscheinprüfung zum ersten Mal Auto gefahren bin und mir bei jedem Handgriff sicher war.

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Der Patientin hatte ich bereits warme Kompressen auf Vulva und Damm gelegt, damit ihr Gewebe gut durchblutet wird. Danach hatte ich mich seitlich am Bett platziert, die Frau lag ebenfalls auf der Seite und stützte ein Bein auf meiner Schulter ab, als zwischen ihren Beinen plötzlich eine klare ballonartige Blase zum Vorschein kam. Eine Glückshauben-Geburt! So nennt man Geburten, bei denen die Babys in der kompletten Fruchtblase zur Welt kommen – eine seltene, medizinisch harmlose Besonderheit, dem Aberglauben nach ein Glücksbringer für das Kind.

Man zieht dem Baby einfach nachträglich die transparente Haut ab. Fasziniert trat ich näher, um mir den kleinen Baby-Ballon noch genauer anzusehen und dachte noch: Wie aufregend, ausgerechnet bei meiner letzten Geburt in der Ausbildung. Was wohl passieren würde, wenn die Fruchtblase genau jetzt, wo sie durch den engen Kanal muss, platzen würde....

Da landete schon ein fetter Schwall Flüssigkeit in meinem Gesicht und meinen Haaren, platsch, ich war nass wie nach der Dusche. Doch abtrocknen war nicht: In diesem Moment kam nämlich auch schon das Kind hinterher gerutscht, die Ausbilderin, bog sich vor Lachen, als sie mir ein Handtuch reichte um zunächst das Baby ein wenig abzutrocknen. Während die Mutter mit ihrem Kind kuschelte, rubbelte ich mir schließlich die Haare trocken und wurde von der Lehrhebamme beglückwünscht: »Das war deine Taufe als Hebamme«, sagte sie. »Bei der nächsten Glückshauben-Geburt weißt du besser, wo du dich hinstellst.«

Ehrlich, das Fruchtwasser warf mich nicht aus der Bahn. Es hatte sich nämlich längst bewahrheitet, was die Ausbilderin mir und meinen Mitschülerinnnen ganz am Anfang prophezeit hatte: »Eure Ekelgrenze wird sich weit weit nach hinten verschieben.« Nur der Übergang, ich spreche von den ersten drei, vier Wochen in der Hebammen-Ausbildung, war seltsam. Aber auch nur weil alles so schnell gegangen war: Eben hatte ich noch das mündliche Jura-Staatsexamen in Hosenanzug und Pumps absolviert, da stand ich auch schon in Birkenstock und Gummihandschuhen voller Blut und Käseschmiere im Kreißsaal. Und fand das von Anfang an so viel toller, echter und aufregender. Aktengeruch – der ist eklig.

Heute, 10 Jahre später, schockt mich nichts mehr, jedenfalls nichts, was mit dem menschlichen Körper zu tun hat, warum auch? Die Scham der Menschen ist so unbegründet. Mit alledem haben wir tagtäglich zu tun. Die Frauen wollen immer wissen, ob da Stuhlgang mit rauskommt: Ja kommt vor, aber es ist nur eine klitzekleine Menge in aller Regel. Das liegt einfach daran, dass im unteren Bauch am Ende einer Schwangerschaft einfach alles sehr eng ist und das Köpfchen kurz vor der Geburt auf den Darm drückt. (Für alle Frauen, die wissen wollen, wie sich das anfühlt: Einfach mal den Finger durch die Scheide Richtung Kreuzbein schieben und dann drücken, das erinnert schon sehr daran, als würde man zur Toilette müssen).

In Wahrheit ist es natürlich der Kontrollverlust, von dem die meisten Angst haben. Und das ist ja auch okay, eine Geburt ist für die meisten einfach eine große Unbekannte. Daher zähle ich den Frauen in der Anfangsphase immer auf, wie der Ablauf ist, was wann im Körper passiert und was theoretisch alles vorkommen kann: dass sie sich übergeben oder dass es sich im letzten Drittel anfühlt, als hätten sie die schlimmste Verstopfung ihres Lebens. Und dass alles GANZ NORMAL ist. Fast täglich sage ich diesen Satz: »Für uns ist das ein gutes Zeichen, wenn sie sich fühlen, als müssten sie groß. Dann ist das Köpfchen schon tief im Becken, und es dauert nicht mehr lang.«

Aber Scham ist ein mächtiges Gefühl. Ich erlebe oft, dass die Frauen sich nicht trauen, ihrem Instinkt zu folgen und dem Druck nachzugeben, wenn das Kind tief im Becken ist und sie mitschieben müssten. Ich spreche sie dann entweder diskret darauf an (»Haben Sie etwa Sorge, dass....?«) oder ich schicke ihren Partner unter einem Vorwand mal kurz nach draußen. Neulich habe ich einen Vater schwarzen Kaffee holen lassen. Damit habe ich die Kompressen dann getränkt, Koffein ist nämlich auch total gut, um das Gewebe zu entspannen.

Apropos entspannen: Diese Angst und Scham, die trifft vor allem auf Ersteltern zu. Neulich hatten wir eine Mutter, die hatte schon drei Kinder bei uns geboren. Die Frau hatte sich bei allen Geburten übergeben, das passiert bei manchen Frauen, wenn das Baby sich mit den Füßen von der Gebärmutterwand abstößt und sich auf den Weg macht. Auch bei Baby Nummer 4 war es so. Routiniert hielt der Vater seiner Frau die Brechschale hin, streichelte ihren Kopf, während sie das 30-Euro-Steak erbrach, das sie sich kurz zuvor noch gegönnt hatte.

»Sie Arme«, sagte die Frau schließlich zu mir, als sie sich wieder beruhigt hatte, »jedes Mal ist das bei mir so eine Sauerei.« Da machen Sie sich mal keinen Kopf, antwortete ich ihr, ich gehe heute noch chic essen – sowas verdirbt mir nicht so leicht den Appetit.

Neben mir in der Kabine rauscht nun die Spülung, den Moment nutze ich und kann endlich auch pinkeln. Als ich beim Waschbecken schließlich meine Kollegin W. treffe, meint sie: »Was ist das da auf deiner Wange?« Ich nehme ein Papierhandtuch und wische mir die Käseschmiere von der Geburt aus der 2 weg.