Von der Rolle

Die Gesellschaft diskutiert über Feminismus, doch in vielen Schulklassen ist alles beim Alten: Die Mädchen werden fürs Tafelwischen gelobt, die Jungs tragen die Atlanten. Frau W. wünscht sich mehr Gender-Sensibilität – auch im Kollegium.

Illustration: Jan Buchczik

Ich mag die direkte Art der SchülerInnen. Oft reden sie einfach so vor sich hin, ohne zu merken, was sie gerade sagen. Sie kommen in der Pause auf mich zugestürmt, mit einem halben Leberkäsebrötchen im Mund und bombardieren mich mit Fragen. Und während ich mir die Krümel von der Backe streiche und nicht darüber nachzudenken versuche, was mich da gerade angefallen hat, überlege ich mir kluge Antworten. Manchmal bin ich aber einfach nur perplex.

Ich stand vorgestern irgendwann auf der Treppe (es darf sich in der Pause dort keiner aufhalten – warum genau, habe ich nie verstanden), als Luisa und Luisa, beste Freundinnen aus der 10b, mich ansprachen: »Frau W.! Frau W.! Was machen Sie eigentlich hier? Wir dachten, Sie hätten ein kleines Kind! Sind Sie jetzt doch Lehrerin?« Da klingelte es schon und die beiden waren wieder im Getümmel der nach belegten Broten und Pubertät riechenden Pausenhalle verschwunden.

Ich war sprachlos. Ja, ich hätte etwas Wichtiges über Emanzipation, die Existenz von Kindergärten und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sagen können, aber es war mir in diesem Moment nicht eingefallen. Auf dem Nachhauseweg rief ich meine Freundin und ehemalige Kommilitonin Lea an. Sie entschied sich damals gegen das Lehramt und muss sich nun mit spätpubertierenden Mitvierzigern in der Compliance-Abteilung eines großen Unternehmens herumschlagen. Wir haben also ähnliche Themen. Wir versuchten zu analysieren, warum die Luisas offensichtlich der Meinung waren, Muttersein und Beruf seien nicht vereinbar.

Lag es daran, überlegten wir, dass die ganze Gendersache den Kindern nicht optimal vorgelebt wird, weil, nur um ein Beispiel zu nennen, der Kuchenverkauf beim Schulfest nach wie vor nur von Müttern organisiert wird? Weil, wenn ein Vater in der Schule mitsprechen will, er sich als erstes in den Elternbeirat wählen lässt und dieses ganze Kuchengedöns großzügig überspringt? Weil Lehrer allenfalls wegen eines Bore-out Stunden reduzieren, so gut wie nie aber um länger Elternzeit zu nehmen? Liegt es daran, dass wir in der Schule eine Putzfrau haben aber einen Hausmeister? Statistisch gesehen vermitteln an den Gymnasien überwiegend Frauen den Lehrstoff (ca. 58 Prozent beträgt ihr Anteil, Tendenz steigend), doch geleitet werden die Gymnasien zu etwa drei Vierteln von Männern. Ohne finale Antworten legten wir beide auf, ich stand bereits vor dem Kindergarten, um mein Kind abzuholen.

Dass die Genderthematik noch wenig Einzug in das Schulleben gefunden hat, sieht man auch an meinen KollegInnen. Ich mag sie fast alle, aber viele unterschätzen, welche Wirkung es hat, wenn sie immer die Jungs die Tische für Gruppenarbeiten rücken lassen und die Mädchen fürs Tafelwischen loben, wenn sie Lektionen in Englischbüchern durchnehmen, in denen die Mädchen immer rosa tragen und die Jungs beim Fußballspielen abgebildet sind.

Was man nun tun kann? Es fängt schon beim korrekten Wording an. Ich spreche jedenfalls immer Mädchen und Jungen an, etwa wenn es darum geht, die Atlanten zu tragen. Und ja, ich finde das Binnen-I oder Sternchen vielleicht auch nicht schön, aber kriegsentscheidend wichtig. Frau B. aus dem Lehrerzimmer hat den feministischen Widerstand ausgerufen, indem sie das bekloppte Englischbuch in ihren Stunden verweigert und mit einem anderen Buch arbeitet. Und Frau E. hat den Kampf in die Unterstufe verlegt: »We better start earlier!« war ihre Erkenntnis nach einer Stunde in der fünften Klasse über Rollenbilder, aus der sie deprimiert herausgekommen war. Seitdem versucht sie schon den Jüngsten mit Zeitungsartikeln und Instagram beizubringen, dass Sprache eben Folgen hat und eine Kosmetikbloggerin, die sich mit ihrer eigenen Linie ein Beauty-Imperium aufgebaut hat, nicht weniger feministisch ist als eine Managerin beim Dax-Konzern.

Ein paar Tage nach dem Angriff der Luisas auf mein gleichberechtigtes Weltbild bekam ich Post, und die erinnerte mich daran, dass meine Bemühungen doch nicht ganz umsonst waren: Es war eine Postkarte von Carina. Die Zehntklässlerin hatte mir Ende des letzten Schuljahres nach einer weiteren Sechs in Deutsch eröffnet, dass sie keinen Bock mehr auf das Gymnasium habe, sie wolle lieber Kfz-Mechatronikerin werden. Ob ich ihr nicht helfen könnte, einen Ausbildungsplatz zu finden. Kurz war ich traurig gewesen, dass die zarte, stille Schülerin aus der letzten Reihe die Schule schmeißen wollte. Doch gerade weil sie so eine klare Vorstellung von ihrer Zukunft hatte, wollte ich sie unterstützen und wir erarbeiteten einen Plan für ihre Jobsuche. Carinas Dankeskarte hängt jetzt über meinem Schreibtisch.