Manchmal denke ich, die Gefühlswelten meiner SchülerInnen hätten das Zeug, mittelgroße Ortschaften mit Strom zu versorgen. Allein die Energie, die an einem Tag wie dem Valentinstag im Schulgebäude zu spüren ist: Summen und Flirren, Schwitzen und Schwärmen, junge Herzen kurz vor dem Bersten. Zugegeben, auch bei uns wird der emotionale Ausnahmezustand an diesem Tag von der »Blumenindustrie« befeuert, genauer gesagt von der SMV, der Schülermitverwaltung, die alljährlich ihren Stand in der ersten Pause aufbaut: Dort kann man dann incognito eine Rose für jemanden kaufen, die dann von der SMV im Laufe des Tages an die entsprechende Person überbracht wird.
Stolz laufen dann spätestens ab der zweiten Pause Mädchen wie Jungen beladen mit Rosen unterm Arm über den Pausenhof. Insignien ihrer Beliebtheit. Aber haben sie wirklich die meisten Verehrer? Oder nur die treuesten FreundInnen?
In siebten Klassen habe ich es schon öfters erlebt, dass die Kinder mit leuchtenden Augen abwarteten, ob auch sie zu den Bedachten gehören. Und dann angestrengt ihre Enttäuschung zu verbergen versuchten, wenn sie leer ausgegangen waren. Mein Herz zerbrach jedes Mal in tausend Stücke, wenn ich das mit ansehen musste! Deshalb habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, dafür zu sorgen, dass im Lauf dieses Schultages jedes Kind in meiner Klasse eine Rose bekommt. Das hat mich zwar schon ein halbes Vermögen gekostet, aber die SMV spendet das Geld – insofern ist dem guten Zweck gleich in doppelter Hinsicht gedient. Und allein das Geflüster und Rätseln in der Klasse, wer denn jetzt in wen verliebt ist, ist es mir wert.
Bei den Großen gilt die Geschenkaktion als eher uncool. Umso überraschter war ich, als es vergangene Woche in meiner Q11 klopfte und eine Delegation der SMV eine einzelne Rose dabeihatte. Alle machten große Augen. Der romantische Gruß war für Alina bestimmt, das schüchternste Mädchen der Klasse. Sie bekam sofort rote Backen und grinste still in sich hinein. Während die anderen tuschelten und sich fragende Blicke zuwarfen, sah ich einen Verdacht bestätigt, den ich schon länger gehegt hatte.
Zu Beginn des Schuljahres saß Alina nämlich noch alleine hinten links. Still und in sich gekehrt, eine Außenseiterin im wahrsten Sinne des Wortes. Sie war von schmaler Statur, hatte grüne Haare und einen Flohmarkt-Rucksack mit Antifa-Stickern. Sie meldete sich so gut wie nie zu Wort, doch wenn ich sie gezielt fragte, kamen ziemlich kluge und treffende Antworten.
Rechts vorne saß Fabian. Er meldete sich ständig und bereicherte den Unterricht mit schlauen Beiträgen und Fragen. Fabian ist aber nicht bei allen LehrerInnen beliebt, er kassierte schon etliche Verweise, einmal hat er die Homepage der Schule gehackt und dort politische, linksgerichtete Werbung platziert. Fabian hatte blaue Haare und die Aufkleber auf seinem Nerd-Rucksack erzählten von Rollen- und Computerspielen.
Schon länger war mir aufgefallen, dass es genau eine Person in der Klasse gab, die von Fabians klugen Wortmeldungen nicht genervt war: Alina. Einmal, als Fabian eine Frage von mir mit Kants kategorischem Imperativ beantwortete, der erst in einer der folgenden Stunden drankommen sollte, und gleich noch das zweite und dritte Gesetz von Kant hinterherwarf, sah ich im Augenwinkel Alina schmunzeln. Der Rest der Klasse hatte nur Fragezeichen im Gesicht.
Eine Woche später war Alinas Platz frei, sie hatte sich in die erste Reihe zu Fabian gesetzt, der sie ohne Unterlass bewundernd ansah, als ich sie zu Aristoteles abfragte und sie glatte 15 Punkte bekam. Was danach passiert, habe – glaube ich – nur ich bemerkt: Nach der Abfrage wanderte seine Hand langsam unter dem Tisch zu ihrer Hand und drückte diese zart. Ich schwöre, mein Herz klopfte mit!
Beide waren Schüler, die unter anderen Umständen auch hätten abrutschen können: Alina war sozial isoliert und hatte keine Lust auf die Mainstream-Mädchen in der Klasse, Fabian war ebenfalls ein Außenseiter, schon wegen seiner Nerd-Hobbys und seines großen Wissens, aus dem er keinen Hehl machte. Jetzt hatten die beiden offenbar: einander. Und gaben sich Halt und Selbstvertrauen. Mich machte das froh.
Der Rest des Kurses bekam die heimliche Liebelei, soweit ich weiß, nicht wirklich mit, wunderte sich vielleicht kurz, warum Alina nun neben dem »anderen Nerd« mit bunten Haaren saß, aber große Gefühle vermutete wohl kaum einer dahinter. Bis zur Rosenverschenkaktion am Valentinstag. Dass es ausgerechnet Fabian war, der sich zu Kitsch und Kommerz hatte hinreißen und seiner Alina eine Rose vor versammelter Mannschaft überreichen lassen, blieb auch den anderen nicht verborgen, spätestens als Alina Fabian gerührt angrinste. Das Glück der beiden breitete sich im Raum aus. Und für einen Moment war ihre kleine Welt für uns alle die größte.