Hätte ich gewusst, dass es mein letzter Schultag ist, hätte ich mir vielleicht ein Abschiedsritual überlegt, am Kiosk nochmal ein Teilchen gekauft, es mit einem lauwarmen Kaffee und Lieblingskollegin C. im Lehrerzimmer gegessen und den Schülern wehmütig hinterhergeschaut, wie sie aus dem Pausenhof hinaus in Richtung Sommer gehen. Aber es war Februar.
Ich wurde plötzlich krank und konnte nicht mehr in die Schule. Was ich habe, ist nicht lebensbedrohlich, aber ziemlich schmerzhaft und intim, etwas, das mich sehr mitnimmt, daher bitte ich an dieser Stelle um Verständnis, wenn ich nicht mehr sagen möchte.
Der Arzt verschrieb Medikamente und Bettruhe. Erst mal nur für drei Wochen. Nachdem es mir nach dieser Zeit – das war um die Faschingsferien herum – nicht besser ging, bekam ich schließlich für den Rest des Schuljahres Arbeitsverbot. Was für ein Wort. Ich heulte den ganzen Weg nach Hause.
So ein Schuljahr ist durchgeplant wie der Kalender der Bundeskanzlerin, wann welche Schulaufgaben stattfinden, wann der Wandertag angesetzt ist, wann welche Lektüre dran ist – all das ist weit im Voraus festgelegt. Und die Schüler steuern dann ohne LehrerIn durch dieses Meer an Terminen, diesen Parcours an Leistungsnachweisen. Und auch ich im Krankenbett fühlte mich ohne Stundenplan, ohne Lehrplan der Leitplanken meines Alltags beraubt, hilflos, auf mich zurückgeworfen.
Auf meiner Bett-Insel trieb ich durch die Wochen des grauen Winters, mal zu erschöpft, um auch nur aufzustehen, dann wieder fest entschlossen, die Verbindung zur Schule nicht abreißen zu lassen: Ich schnappte mir die Reste meiner Arbeit, die ich vor meiner Erkrankung noch mit nach Hause genommen hatte – eine Ex in Ethik und eine Schulaufgabe in Deutsch – und versuchte, wenn ich mich mal nicht übergab (eine Folge der Medikamente) oder hämmernde Kopfschmerzen hatte (eine Folge des Übergebens), sie zu korrigieren. Ich korrigierte einen ziemlichen Mist zusammen. Schämte mich. Haderte.
Ist doch kein Weltuntergang, überall in der Arbeitswelt fallen Menschen aus, sagen bestimmt jetzt einige. Aber im Schuldienst ist eine längere Abwesenheit verheerend. Auch wenn ein Wort wie »Lehrplan« eine gewisse Planmäßigkeit und Allgemeingültigkeit suggeriert, ist es für einen Vertretungslehrer schwierig, einfach so in eine Klasse zu springen und an den bisherigen Unterricht anzuknüpfen.
Denn jeder Lehrer, jede Lehrerin unterrichtet auf seine bzw. ihre Weise, manchmal überspringt man etwas, manchmal widmet man einem Thema mehr Zeit, weil man ja auch die Bedürfnisse der Schüler kennengelernt hat. Und alle Vertretungslehrer übernehmen die Stunden freiwillig, zusätzlich zu ihrem regulären Pensum.
Es gibt zwar landesweit »Mobile Reserve«, also Lehrer, die als Springer an Schulen gehen, wo jemand länger ausfällt, aber weil insgesamt großer Lehrermangel herrscht, sind fast alle Mobilen Reserven schon zu Beginn des Schuljahres verteilt. Es gibt kaum Puffer für solche Lehrer, die erst im Lauf des Jahres erkranken (genau genommen bräuchte es eine Mobile Reserve für die Mobile Reserve).
Die Bewilligung solcher Stellen läuft zäh und extrem bürokratisch ab, und man kann sie erst beantragen, wenn klar ist, dass eine Lehrkraft definitiv längere Zeit nicht in den Schuldienst zurückkehren kann. Bis es soweit ist und das Wer-übernimmt-welche-Klasse-Geschiebe im Kollegium geregelt ist, fällt der Unterricht aus. In meinen drei Wochen waren das in meiner Achten zum Beispiel 12 Stunden Deutsch. 12 Stunden – da kann man fast eine ganze Lektüre durchnehmen. Ich fühlte mich schuldig, nun würden die Schüler meinetwegen hinterherhinken.
Unterrichtsausfall bringt natürlich Eltern auf die Barrikaden. Vielen von ihnen ist es herzlich egal, was für eine Krankheit die Lehrkraft hat, ob sie verzweifelt daheim liegt und sich nichts sehnlicher wünscht, als zu ihren SchülerInnen zurückzukehren. Nein, die Eltern haben »reibungslose Lernvermittlung« gebucht, und dass wer ausfällt, ist für sie im alltäglichen Familien-Orga-Wahnsinn eine ähnliche Katastrophe wie eine streikende Kita oder der Ausfall des öffentlichen Nahverkehrs. Besonders wenn ihr Kind in deinem Fach gerade kämpft. Und dann ist die Lehrkraft weg, die doch zuletzt so motivierend eingewirkt hat und das Signal, dass es seit der letzten Zwei in der Ex aufwärts geht, gegeben hatte.
Ich dachte an Emil aus meiner Sechsten, dessen Mutter so oft bei mir in der Sprechstunde war, das kleinste von vier Geschwistern, große familiäre Probleme, eine Schwester hatte lebensgefährliche Magersucht – und Emil immer schlechtere Noten. Der Kollege, der von mir stellvertretend die Klassenleitung übernahm, rief mich eines Tages an – ich lag wie immer mit Wärmflasche im Bett – und erwähnte beiläufig, Emil habe die Schule verlassen. Bitte was? Und ich war in der entscheidenden Zeit nicht da! Vielleicht hätte ich es verhindern können. Lose Fäden. Offene Enden.
Eine andere Kollegin schrieb mir per Whatsapp, dass vier Schülerinnen aus meiner Zehnten sich sehr um eine Mitschülerin sorgten, die immer wieder wahnwitzig gefährliche Mutproben machte. Jugendlicher Leichtsinn oder doch Todessehnsucht? Wieso hatte ich nichts bemerkt? Es machte mich fertig, in meinem Bett zu liegen, zum Nichtstun verdammt.
In meinen fitten, wachen Momenten, erstellte ich vom Bett aus Lernpakete für die EVA zusammen, das sind Aufgaben mit denen die Klassen eigenverantwortlich arbeiten sollten. Gefordert ist das eigentlich nur ab der 10. Klasse, ich machte es aus schlechtem Gewissen für alle meine SchülerInnen.
Wochen später sollte ich erfahren, dass meine Q11, von der ich soviel hielt und die Punkte brauchte fürs Abitur, ob der vielen Freistunden doch einfach nur »Hurra« geschrien hat: Nur zwei SchülerInnen machten am Ende die Aufgaben aus meinen Lernpaketen. Auch so eine bittere Wahrheit als Lehrer: Du hast nur Einfluss, wenn du präsent bist. Wenn du eindringlich auf die SchülerInnen einwirken kannst. Telekolleg Krankenbett funktioniert nicht.
Ich dachte auch an meine Siebte, die sich (zusammen mit mir) zuletzt wochenlang an Vulkanen begeistert hat, und die beim anstehenden Projekt ernsthaft in Jubel ausbrach, als ich sagte, dass sie ihre Länder-Vorträge mit Laptops vorbereiten dürfen. So viele liebenswerte, wissbegierige Köpfe. Ich hätte gerne die Früchte meiner Arbeit geerntet.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch krank zuhause sein werde. Ich weiß nur, dass ich die Schule unendlich vermisse. Und dass ich, solange ich nicht unterrichte und mir die täglichen Erfahrungen aus dem Unterricht fehlen, auch diese Kolumne nicht weiterschreiben kann. Dabei hat mir die Arbeit daran so viel Freude gemacht. Fast so viel Freude wie die Arbeit mit den Schülern.
Das war meine letzte Folge, ich hätte mir ein Abschiedsritual überlegen sollen.