Dritte Stunde, Donnerstag, noch drei Wochen bis zu den Zwischenzeugnissen. Lena kam mit hängendem Kopf zu mir ans Pult, sie wollte sich befreien lassen. »Was fehlt dir denn, Lena?«, fragte ich zurück, während die anderen in Gruppen ihre Texte überarbeiteten. »Ich habe Kopfweh,« flüsterte sie. Am Tag zuvor waren es Bauchschmerzen gewesen. Der Befreiungszettel, auf den ich meine Unterschrift setzte, hatte nur noch wenig Platz, so oft war Lena zuletzt aus dem Unterricht gegangen.
Ich blickte Lena an, ich konnte nicht sagen, ob sie wirklich Kopfschmerzen hatte, aber dass etwas nicht stimmte, sah ich ihr sofort an. Sie verabschiedete sich knapp von ihren Freundinnen und verließ das Klassenzimmer.
Bei vielen SchülerInnen nehmen die Befreiungen kurz vor den Zwischenzeugnissen zu. Obwohl in den letzten Jahren die Abiturschnitte immer besser wurden und wir LehrerInnen bisweilen das Gefühl hatten, der Leistungsanspruch am Gymnasium sei eher gesunken, stellen wir gleichzeitig fest, dass Prüfungsangst, Überforderung, sogar Panik unter den SchülerInnen alltäglich geworden sind. Ein Grund für diesen Druck könnte die Tatsache sein, dass heute wesentlich mehr Schüler als früher aufs Gymnasium wechseln. In der ZEIT war kürzlich zu lesen, dass mehr als die Hälfte der Eltern ihre Kinder im fünften Schuljahr an einem Gymnasium anmelden (in den Fünfziger Jahren waren es 10 Prozent) und dass jedes vierte Elternpaar dies gegen den ausdrücklichen Rat der Grundschullehrkraft tut. Das Gymnasium wird »ausprobiert«, ein Versuch am eigenen Kind, der oft ein Scheitern oder eine Angst vor dem Scheitern zur Folge hat. Der Druck kommt jedenfalls nicht nur vom System Schule, sondern zu großen Teilen von außen, von den Familien und manchmal auch von dem Kind, dem Jugendlichen selbst.
Ich lud Lenas Eltern in meine Sprechstunde ein, um herauszufinden, was bei Lena der Fall war. Es kam die Rede auf Lenas letzte Vier in der Deutsch-Schulaufgabe. Ihre Mutter war völlig aufgelöst deswegen, den Tränen nahe. Ich erklärte, dass eine Vier doch noch immer »ausreichend« sei, dass viele Schüler mal einen solchen Ausrutscher hätten und dass Lenas Wortbeiträge im Unterricht zeigen würden, dass sie es besser könnte. Der Vater schaute seine Frau an und schüttelte den Kopf: »Ich will mindestens eine drei!« Diesen Satz habe ich schon oft gehört. Eltern wollen Noten. Für sich?
»Natürlich geht es mir nur um das Beste für Lena!«, schob er auf meinen irritierten Blick hin hinterher. Die Eltern erzählten dann noch, dass sie mit ihrer Tochter nicht mehr so gut klarkämen, seit sie in der Pubertät sei, dass sie zweimal die Woche Nachhilfe organisiert hätten, dass Lena auch am Wochenende Lerneinheiten habe und dass ihre Mutter jeden Tag die Hausaufgaben kontrolliere.
Ich machte mir Notizen und zeigte den Eltern, was sie mir gerade vermittelt hatten: Jeden Tag Programm für Lena. Kaum Freizeit. »Ihre Tochter braucht Luft zum Atmen«, sagte ich.
Am nächsten Tag schrieben die Kinder die letzte Schulaufgabe, deren Note noch in die Zwischenzeugnisse einfließen sollte. Zwei Schüler fehlten, drei ließen sich noch kurz vorher befreien. Lena aber saß tapfer in der ersten Reihe. Ich teilte die Angaben aus und setzte mich ans Pult. Ich sah Lena hektisch blättern, sie schrieb ein bisschen, strich alles wieder durch, ich konnte dabei zusehen, wie sie die Zeit aus den Augen verlor. Leise ging ich zu ihr hin, kniete mich neben sie und sagte lächelnd »Ganz ruhig, du schaffst das!«. Nun blockierte sie völlig. Wieder zu viel Druck. Das bisschen Selbstbewusstsein, das ich in den Stunden vor der Schulaufgabe aufgebaut habe durch Lob für ihren gelungenen Übungsaufsatz, schien nun dahin. Ich hätte mich ohrfeigen können.
Es ist keine Drei geworden. Am nächsten Tag begann ich mit dem Schreiben der Zeugnisse. In allen Kernfächern hatte Lena eine Fünf, sehr gefährdet. Ich versuchte, über die Zeugnis-Bemerkungen etwas positiven Geist zu verströmen, »eine fleißige, freundliche, zuvorkommende Schülerin!« schrieb ich und wusste doch, dass bei Lena und ihren Eltern am Ende nur die nackten Zahlen zählen würden.
Das nächste Beratungsgespräch stand an. Diesmal kam nur Lenas Mutter. Ich fragte nach, ob sich die Nachmittage verändert hatten. Befürchtete schon, einmal mehr zu weniger Druck und Kontrolle mahnen zu müssen. Doch Lenas Mutter erzählte mir, dass sie ihrer Tochter versprochen habe, sie fürs Erste in Ruhe zu lassen, sie nicht länger zu drängen und mehr zu vertrauen. »Frau W., sie hat mich daraufhin in den Arm genommen, ganz fest, und ›Danke, Mama‹ gesagt.« Wieder hat Lenas Mutter Tränen in den Augen. Und auch ich war gerührt. Ein Anfang. Zum zweiten Halbjahr.
Ob Lena die Klasse schaffen wird, weiß ich nicht, doch erstmal habe ich wieder ein Kind vor mir sitzen, das Zettelchen an ihre Banknachbarin weiterreicht, schwätzt und nicht immer, aber in manchen Momenten zehn Kilo leichter wirkt.