Schülerinnen und Schülern ihren ersten Theaterbesuch zu ermöglichen, gehört zum Schönsten, Inspirierendsten und Amüsantesten, was man als Lehrer machen kann. Ehrlich. Dabei sein zu dürfen, in diesen Stunden voller unschuldiger, tiefempfundener Begeisterung, Irritation oder gar Ablehnung, ist ein unglaubliches Privileg.
Es fing damit an, dass ich den SchülerInnen bereits in einer der ersten Stunden nach den Sommerferien angekündigt habe, dass wir ein bestimmtes Stück nicht nur lesen und durchnehmen werden, sondern – Tusch, kunstvolle Pause, Trommelwirbel – auch sehen. Live und in Farbe. Wir werden in die große Stadt fahren und dort ins Theater gehen. Spontaner Applaus blieb Ende September in meiner Elften allerdings aus. Sonst wird jede Abwechslung vom 8 Uhr-Pausengong-Doppelstunden-Alltag groß beklatscht, aber Theater? Schulterzucken. Eine fremde Welt.
Meine Klasse ist zwar bislang in Deutsch furchtbar schlecht, aber furchtbar liebenswert. Die erste Frage kam von Line: »Dürfen wir uns schick machen?«. Ich dachte kurz darüber nach, was wohl nach Lines Definition schick war: ein T-Shirt, das über den Bauchnabel reichte vielleicht, oder eine richtige Hose statt einer Leggins. Da wurde bereits die zweite Frage von Pascal gestellt: »Dürfen wir danach noch länger in der Stadt bleiben?« Ich bejahte das eine und vertagte das andere. Das war’s dann aber auch schon mit den Fragen. Welches Stück wir anschauten, war erstmal völlig nebensächlich.
Es folgten jene Wochen, in denen ich den SchülerInnen hinterherlief, damit ich endlich mein Geld für die vorgestreckten Theaterkarten wieder zusammen bekam und den Eltern mehrmals versicherte, ihre Schäfchen auch alle wieder heil zurückzubringen. Je näher der Abend rückte, desto aufgeregter wurden alle, ich musste viele Fragen beantworten: »Gibt’s da eine McDonalds in der Nähe?« und »Frau W., wie cool sind Sie mit Biertrinken?«
Es ist mir wirklich ein Anliegen, den SchülerInnen an so einem Abend, etwas zu zeigen, woran sie sich immer erinnern werden. Und wenn wir dann gemeinsam überwältigt oder erschlagen aus einer Vorstellung kommen, dann ist es auch ok, wenn diese fast erwachsenen Menschen in der Kneipe über die Schauspieler und das Bühnenbild diskutieren und da dürfen sie dann auch meinetwegen ihr Radler oder Bier in meinem Beisein trinken. Das sagte ich meiner Elften – und alle flippten aus. Jetzt folgte also doch noch der Applaus. Wie berechenbar sie doch sind.
Nun musste ich natürlich auch ein entsprechend gutes Stück liefern. Das hatte ich: Faust. Ohnehin eine starke Nummer, aber in der Inszenierung, die ich wählte, ein bombastisches Ereignis. Noch immer gehen viele SchülerInnen davon aus, dass Theater langweilig ist, ja, sein muss. Denn die altertümliche Sprache kann in ihren Augen gar nichts Cooles hervorbringen. Ich lachte mir ins – haha - Fäustchen, denn ich kannte die Inszenierung. Ohne zuviel zu verraten, bereitete ich sie auf die nackten Schauspieler und die anzüglichen Szenen vor. Bitte was, Frau W., in Faust sollte es so abgehen? Ihre Aufregung stieg.
Es kam der besagte Abend. Nach und nach trudelten alle auf dem Bahnsteig ein, manche im Abendkleid, manche in Jogginghose und Flatcap. Nachdem in Hörweite auch mein Outfit ausgiebig analysiert wurde und alle Fahrkarten verteilt waren, stiegen wir in den Zug. Chips und Gummibärchen wurden herumgereicht. Ich hörte wie immer in solchen Momenten einfach nur zu. Es ist wie bei einer Feldstudie über die Erforschung unbekannter Wesen dabei zu sein. Meistens verstehe ich auch nur die Hälfte. Wissen Sie, was »zetten« oder »skyen« ist? Ich auch nicht.
Angekommen in der großen Stadt stöckelte und schlurfte die kleine Herde ins Theater. Es wurden noch ein paar Selfies geschossen und sich dabei etwas zu sehr auf die Sitzreihe vor uns gelehnt. Murren, Geraune, Umgedrehe der Grauhaarigen. Ich tat so, als würde ich noch mein Handy suchen... Dann ging schon der Vorhang auf. Mit einem Knall begann die Inszenierung, es folgten drei atemberaubende Stunden. Im ersten Akt vergaß Cassandra, dass ich neben ihr saß und krallte sich vor Schreck in meinen Oberschenkel, beschämt rutschte sie ein bisschen tiefer in ihren Stuhl. Im zweiten Akt beugte sich Muhammed zu Kai rüber und sagte sehr laut: »Altaaaaa, den BH habe ich heute auch schon zehnmal gesehen«, und im vierten Akt, kurz vor Schluss hörte ich: »Die Karten haben echt nur acht Euro gekostet?! Und dafür so 'ne Show?«. Ich lächelte. Muhammeds Fazit, als der Vorhang fiel: »Frau W., danke, jetzt weiß was ich werden will: Schauspieler«. Naja, mal sehen. Aber ich hatte in diesem Moment das Gefühl, dass sich für manch einen dieser wildgewordenen Teenager eine Perspektive auf das aufregende Leben nach der Schule gezeigt hatte. Ein kurzer Blick hinter den Vorhang, was da draußen auf sie warten würde.
Bei einem kleinen Getränk und einem großen Schnitzel in einer Kneipe in der Nähe des Theaters und diskutierten wir dann noch, welche Schauspieler wir am besten fanden und wie modern Goethes Stück doch war. Georg sagte, er sei neidisch auf den Bizeps des Mephisto, und Cassandra, sie habe noch nie so einen peinlichen Moment mit einer Lehrerin erlebt.
Dann gingen wir zurück zum Bahnhof. Im Zug redeten wir nicht mehr über Faust, sondern darüber, wie ihr Leben im Allgemeinen gerade so war. Alle versicherten mir: Sehr stressig und viel Druck so in Sichtweite vor dem Abitur. Muhammed brachte es auf den Punkt: »So ein Abend tut da mal ganz gut.«
Hinweis: Die Kolumne pausiert in den Weihnachtsferien. Die nächste Folge wird am 10. Januar erscheinen.