Es war ein schöner, aber kalter Herbstmorgen, die Natur hatte den Farbregler oktobergemäß auf volle Leuchtkraft gestellt. Beschwingt fuhr ich in die Schule, immerhin würde ich heute mal nicht fünf Stunden am Stück unterrichten, sondern draußen sein. Im Lehrerzimmer herrschte Gedränge um den Tisch mit den vorbereiteten Erste-Hilfe-Sets – die müssen wir nämlich immer mitnehmen. Ich langte kräftig zu, in der Hoffnung, dass ich niemanden verbinden musste – mein letzter Erste-Hilfe-Kurs lag schon eine Weile zurück. Was ich an Verbandsmaterial einpackte, würde reichen, um jeden in der Klasse neu einzukleiden.
Ich fragte mich kurz, ob meine alten Converseschuhe die richtige Wahl waren und grüßte meine Begleitung, die ich kaum kannte, mir aber zugeteilt worden war. Eine junge Kollegin, gerade dem Referendariat entsprungen und mit dem neuesten Wanderstiefel am Hacken. Außerdem hatte sie noch Wanderstöcke dabei, was ich nun wirklich übertrieben fand angesichts der Tatsache, dass ich einen leichten Spaziergang geplant hatte. Unsere Schule lag am Stadtrand, direkt dahinter fing der Wald an. Berge: keine.
Natürlich war dem heutigen Tag Wochen zuvor die ewige Was-machen-wir-am-Wandertag-Diskussion vorausgegangen, bei der sich die SchülerInnen mal wieder die Klassiker gewünscht hatten: »in die große Stadt fahren und Trampolin springen«, Rutschenparadies im Erlebnisbad und Escape Room.
»Aus einem Raum erst nach gelösten Aufgaben wieder herauskönnen? Das haben wir doch hier jeden Tag«, sagte ich und wies darauf hin, dass alle ihre Vorschläge ziemlich kostspielig und damit nicht im Sinne ihrer Eltern waren. Ich nehme Wandertage ja am liebsten wörtlich, sagte ich. Kassierte kollektives Augenrollen. Warb, erklärte, zeichnete ein Bild von unserem Ausflug. Und überzeugte sie schließlich.
Die Sache ist: Ich glaube wirklich an das Prinzip Wandertag. Beim Gehen in der Natur kann man gut nachdenken und reden. Mag sein, dass das alles auch im Spaßbad und der Trampolinhalle geht, aber – Message aus Oldtown: Ich möchte meine Bandscheiben schonen. Und auch keine Verletzungen unter den Schülern riskieren.
Doch am Wandertag selbst war ich mit einem Mal unsicher, ob mein Plan aufgehen würde, denn in der Pausenhalle traf ich auf 28 extrem unmotivierte und frierende Unterstüfler, die gerade von der Parallelklasse erfahren hatten, dass diese sich mit dem Trampolinspringen durchgesetzt hatte. Mürrisch schlurfte die Klasse über den Pausenhof. Ich ging zügig voran, die Sonne machte sich langsam breit und nach zwanzig Minuten auch bessere Laune unter den SchülerInnen.
Der erste schloss zu mir auf. Jan. Er machte also den Anfang. Ich werte das ja immer als niedlichen Versuch, mich zu integrieren. Daneben geht es aber auch immer darum, mir alles, wirklich alles über das eigene Hobby zu erzählen. Ich könnte mittlerweile Bücher über die Hobbys meiner SchülerInnen schreiben, weiß bestens Bescheid über Bogenschießen, Voltigieren und Schach. Während die anderen sich Musik auf ihren Smartphones vorspielten, einander Rätselaufgaben stellten oder einfach nur ins Gespräch vertieft waren, zog Jan mit mir über die Wiesen und sprach über die große Welt des Fliegenfischens.
Die erste Rast war nach großem Nörgeln bereits nach einer Stunde notwendig. Es wurden Brote gegessen und Kekse herumgereicht. Kauend blickte ich mich um: Ich kannte diese Klasse erst seit drei Wochen. Doch das richtige Kennenlernen findet immer erst an einem Tag wie diesem statt. Die Klasse sieht dann auch mich mal in einem anderen Licht. Und ich sie. Verstehe, wer mit wem befreundet ist. Welche Grüppchen sich gebildet haben und wer vielleicht noch ein wenig Zeit und Unterstützung braucht, um in der neu zusammengewürfelten Klasse Anschluss zu finden.
Wir liefen eine Weile an einem steinigen Flussufer entlang, das Wasser plätscherte glitzernd in der Sonne, Bayern sieht manchmal aus wie Kanada, dachte ich. »Boah, voll schön hier«, sagte Leonie. Ich grinste still.
Bei unserer zweiten Pause an diesem Tag kam mir eine weitere Erkenntnis: Ohne ein Zutun von außen haben die Mädchen und Jungs mit knapp 13 Jahren Interessen, die sie voneinander deutlich unterscheiden. Die Jungs wuchteten nahe unserer Picknickstelle unter großem Gebrüll riesige Baumstämme aus dem Gebüsch, um sie in den Fluss zu schmeißen (Frau F. griff bereits hektisch nach dem Verbandskoffer). Keuchend und konzentriert arbeiteten sie eine Aufgabe ab, die ihnen niemand gestellt hatte.
Die Mädchen dagegen wendeten sich hingebungsvoll dem Kruzifix am Wegesrand zu und dekorierten es mit gepflückten Blümchen und hielten ihr Werk schließlich für Instagram fest. Die junge Lehrerin und ich sahen staunend zu und überdachten unsere Gendertheorie nochmal.
Als wir uns am nächsten Tag wieder mit normalem Schuhwerk in der Schule trafen, sagte natürlich keiner der SchülerInnen »Danke, Frau W., für diesen eindrücklichen, inspirierenden Wandertag«. Aber ich sah an ihren roten Bäckchen, dass sich etwas verändert hatte. Die Grüppchenbildung war leicht anders, nicht nur die üblichen Quatschtanten redeten miteinander, sondern alle. Durch die Bank. Sie zeigten sich Fotos vom Vortag (»Schau mal, was für einen geilen Filter ich da drüber gemacht habe«) und ich hatte den Verdacht, dass es ihnen irgendwie klamm heimlich doch gefallen hat.