Sex hebe ich mir eigentlich immer für kurz vor die Sommerferien auf. Es ist im Ethikunterricht der vierte Themenblock von vieren für die achte Klasse. Viele Lehrer sehen ihn deswegen als optional an, vielleicht auch, weil sie ungern Schülerfragen über das Intimste beantworten. Mir war das Thema aber besonders wichtig, und weil die ganze Klasse sowieso gerade über die gehypte Netflix-Serie Sex Education redete, beschloss ich, den Block in diesem Schuljahr vorzuziehen.
Bis zum Halbjahr waren die Jugendlichen, die aus unterschiedlichen Klassen Ethik gewählt hatten, noch nicht wirklich zu einer Gemeinschaft gewachsen, die Gruppe hätte kaum heterogener sein können: Da waren unter anderem der Schönling, die zwei Quatschtanten, die vier, schweigsamen SchülerInnen muslimischen Glaubens, zwei coole Hip-Hop-Gangster und die Fraktion der Mädchen, die nie was sagen, aber so ein mystisches Getue um sich herum erzeugen. Bislang hatte jedes Thema meiner Ethikstunden zu endlosen Diskussionen geführt, manchmal sogar zum Streit.
Ich fing also harmlos an mit »Freundschaft« und steigerte mich zu »Liebe«. Bis die mystische Schülerin Cathy zu mir meinte: »Ganz ehrlich Frau W., wann reden wir denn jetzt endlich über Sex?!« – »Nächste Stunde, versprochen.« Bei meiner Vorbereitung graste ich das Internet nach passendem Material ab, was mich zwangsläufig auf fragwürdige Seiten und ins Schwitzen brachte. Nein, das konnte nicht der richtige Weg sein. Also zurück zu Bewährtem: Kärtchen schreiben lassen und nachfragen, was die Schüler interessiert und worüber sie gerne sprechen wollen.
Mittwoch in der dritten Stunde war es soweit. Alle kritzelten still und ausgiebig auf den bunten Kärtchen rum. Ich war überrascht. Bisher wurden Arbeitsaufträge nur unter großem Murren und extrem langsam ausgeführt. Voller Neugier sammelte ich die Zettel ein. Meine nächste Stunde in einer anderen Klasse konnte nicht schnell genug vorübergehen.
In der Pause studierte ich den Packen Karten. »Analkitzler« war der erste Begriff, den ich las. Äh... Hilfe! Ich befürchtete Schlimmes. Dann: »Ist Selbstbefriedigung verboten?« Ok, das war einfach. »Woran merke ich, dass ich homosexuell bin?« Auch dazu konnte ich was sagen. Ich las auch: »Mit wie viel Jahren sollte ich das erste Mal Sex gehabt haben?« und »Ich fühle mich in Sexfragen unsicher; ich könnte nie mit meinen Eltern darüber sprechen.« Ich war ehrlich überrascht, was meine SchülerInnen preisgaben: Eine Schülerin schrieb, dass sie noch nicht bereit für Sex sei und sich von ihren Freundinnen und vor allem ihrem Freund inzwischen anhören müsse, sie sei zurückgeblieben und verklemmt.
Abgesehen vom »Analkitzler«, der auch noch ein weiteres Mal aufgeschrieben wurde – auf die höhö-Fraktion war halt einfach Verlass – waren alle Kärtchen mit ehrlichem Interesse und Neugier geschrieben worden. Dass die Klasse sich gerade bei diesem Thema von einer besseren Seite zeigte, bewegte mich.
In der nächsten Stunde präsentierte ich ihnen in Form einer Mind-Map ihre Fragen. Während ich schrieb, war es seltsam still in der Klasse, alle suchten ihr Thema, ihre Frage auf der Tafel. Danach ging ich Schritt für Schritt jeden Punkt durch. Einer lag mir besonders am Herzen: Diesen jungen Menschen an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend zu sagen, dass niemand Sex zu einem bestimmten Zeitpunkt gehabt haben muss.
Dennoch war die Stunde eine Gratwanderung: Ich wollte einerseits offen und ehrlich antworten und konnte doch – es waren Achtklässler – auch nicht in jedes Detail gehen, einfach weil die Wissensstände und sexuellen Erfahrungen der SchülerInnen so unterschiedlich waren. Eines der Mind-Map-Stichwörter war Lust. Chiara meldete sich: »Ich habe gehört, dass es Frauen beim ersten Mal nicht so viel Spaß macht und immer weh tut.« Keiner lachte, alle starrten mich an, warteten auf meine Antwort. »Wenn beide erregt sind und man es langsam angehen lässt, dann tut es eigentlich nicht weh, sondern fühlt sich unglaublich schön an. Sprecht miteinander. Erzählt euch, was sich gut anfühlt, es geht nicht darum, etwas, das man irgendwo gesehen hat, nachzuturnen. Und immer gilt: Ihr müsst nein sagen können oder ›Das mag ich nicht‹.«
Wir redeten noch darüber, ob es sinnvoll ist, sich in der Klasse zu outen. Philipp meinte: »Ich bin zwar nicht schwul, würde es aber nicht verstecken wollen.« Eine Schülerin wandte nachdenklich ein, dass manche dennoch das Gefühl hätten, es geheim halten zu müssen und dass man auch das respektieren müsse und lieber überlegen sollte, warum das so ist. Ein paar Leute nickten zustimmend, keiner machte sich lustig über den anderen.
Am Ende der Stunde bot ich an, dass die SchülerInnen auch unter vier Augen noch mit mir sprechen konnten, für den Fall, dass noch Fragen offen waren. »Ich sage zu allem was – außer zum Analkitzler!« Jetzt konnten die Hip-Hop-Gangster nicht mehr an sich halten und prusteten und johlten. Natürlich war mir zu diesem Zeitpunkt längst klar gewesen, von wem der Begriff stammte. Es klingelte und alle strömten nach Draußen. Hannah flüsterte mir beim Rausgehen zu: »Hätten Sie vielleicht wirklich kurz Zeit? Ich kann einfach nicht mit meinen Eltern darüber sprechen...«
Wegen der Faschingsferien erscheint die nächste Folge der Lehrerkolumne erst am 14. März.