Lasst mich bloß in Ruhe

Ein Leser befürchtet, dass sich seine Familie verpflichtet fühlen wird, ihn zum 85. Geburtstag zu besuchen – weil er Witwer ist. Wie kann er seinen Verwandten sagen, dass es ihm davor graust?

Illustration: Serge Bloch

»Im Sommer werde ich 85. Da ich seit fünf Jahren Witwer bin, werden Kinder, Schwiegerkinder, deren Eltern und zwei Enkel sich verpflichtet fühlen (so Corona es bis dahin hoffentlich wieder erlaubt), mich zu besuchen. Wie kann ich der Verwandtschaft verklickern, dass mich das überfordert? Ich müsste Übernachtungsmöglichkeiten schaffen, Einkäufe tätigen, meinen Tagesrhythmus ver­ändern, dürfte während der Zeit weder rauchen noch ­Alkohol trinken. Einerseits finde ich es rührend, wie sich alle kümmern wollen, andererseits graust es mir vor ­diesem Tag.« Rainer R., Hildesheim

Wann haben eigentlich ältere Menschen das Recht verloren, alt zu sein? Es muss irgendwann in den Neunzigern passiert sein. In den Achtzigern galt Joan Collins im Denver-Clan noch als alt, und damals war sie noch nicht einmal fünfzig. Es gibt ja auch keine Greise mehr. Nicht dass ich Sie als einen solchen bezeichnen wollte, mir fiel nur irgendwann auf, dass sich das Wort klammheimlich aus dem allgemeinen Sprachwortschatz gestohlen hat. Selbst 90-Jährige werden heute eher als ältere Herrschaften bezeichnet denn als Greise. Ich wüsste gar nicht, wie alt man sein muss, um doch noch als Greis durchzu­gehen. Hundertzwölf? Drunter ist jedenfalls nichts zu machen. Was den Verdacht nahelegt, dass auf das hohe Alter ein Schatten gefallen ist. Niemand darf mehr alt sein. Frechheit. Sie sind alt. Jedenfalls alt genug, um Ihren Geburtstag so zu gestalten, wie es Ihnen gefällt.

Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, dass Ihre Familie das nicht verstehen würde. Das wären ja seltsame Verwandte, wenn die von Ihnen erwarten, dass Sie mit 85 den Herbergsvater geben. Sind Sie sicher, dass die wissen, wie alt Sie sind? Am Ende springen Sie immer herum, Zigarette zwischen den Fingern, Glas Chardonnay in der Hand, und wirken versehentlich total jung?

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Wünschen Sie sich von Ihren Verwandten einen Geburtstag nach Ihrer Façon. Wünschen Sie sich, dass die Sie ausschlafen lassen, dann mit Frühstück vorbeikommen und/oder mit Alkoholika und Tabakwaren Ihrer Wahl. Wünschen Sie sich, dass niemand bei Ihnen übernachtet und sich in Ihren Tagesrhythmus einmischt. Sie müssen gar nichts. Sie sind nicht 85 Jahre alt geworden, um sich immer noch nach den Vorstellungen anderer Menschen zu richten. Denken Sie an sich: Wenn die ­Devise Wenn-nicht-jetzt-wann-Dann? jetzt nicht gilt, wann dann? Passen Sie gut auf sich auf.