Vor kurzem wartete ich an der Bushaltestelle. Neben mir war ein junges Paar. Die beiden standen sich gegenüber. Immer wieder zog der Mann die Frau an sich heran, um ihr einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Dazu der Blick, nur in die Augen des anderen. Und ich stand da mit meinem Einkaufstrolley.
Ich kann mich eigentlich gut für andere Menschen freuen, und Liebe zu sehen, ist immer etwas Schönes. Trotzdem fühlte sich nach der Begegnung der Rest des Tages komisch an. Denn mir wurde klar, wie lange es her ist, dass mich ein Mann so sehnsüchtig angeschaut hat. So sehnsüchtig, dass mir bewusst ist, dass ich die Welt für ihn bin. Dass er mich begehrt.
Ich habe seit mehr als zwei Jahrzehnten keinen Sex mehr gehabt. Mein Mann ist seit sechs Jahren tot und hatte schon lange vorher wegen seiner Alzheimererkrankung kein Bedürfnis mehr nach körperlicher Nähe. Ich bin mir sicher, dass ich mich mit diesem Zeitraum sogar noch einigermaßen glücklich schätzen kann. Viele Menschen in meinem Alter müssen vermutlich schon länger auf Sex verzichten, weil diese Seite in ihrer Ehe schon früher eingeschlafen ist als bei Ulli und mir.
Ich kann mir jetzt also vorstellen, wie es einer Nonne gehen muss. Und ich weiß sehr genau, was ich verpasse. Ich kann mich ja an alles noch genau erinnern. An die Blicke, das Begehren, das Flirren, das Kribbeln, die Vorfreude, später dann die Ekstase.
Es fehlt mir. Das einzig Dankbare an der Situation ist, dass sich meine Hormone nicht mehr so häufig zu Wort melden. Ich fühle mich viel seltener erregt als früher.
Natürlich könnte ich nach einem Sexpartner in meinem Alter suchen. Aber es gibt etwas, das mich davon abschreckt. Die Männer meiner Generation waren – im Allgemeinen – im Bett nicht so weit wie Männer heute. Wir stammen ja aus einer Zeit, die viel prüder und entsexualisierter war, wie ich in einem Text schon einmal beschrieben habe. Selbst mit Freundinnen sprach ich kaum über Sex, und mit Männern schon gar nicht. Wer intim wurde, knipste vorher das Licht aus. Außerdem ging es vor allem darum, ob die Sache befriedigend für den Mann war. Denn über weibliche Lust wurde kaum gesprochen. Ich hatte mit meinem Mann Ulli das große Glück, dass er anders war. Ihm war es sehr wichtig, dass ich beim Sex genauso auf meine Kosten kam. Damit war er aber kein Regelfall – und ich habe nicht unbedingt Lust darauf, andere Männer aus meiner Generation dahingehend zu testen.
Viel mehr als den eigentlichen Sex vermisse ich außerdem etwas anderes. Das Davor und Danach. Von einem Mann angesehen zu werden, und zwar richtig. Das Gefühl, wenn dir jemand über die Beine und den Bauch streichelt und du spürst, wie groß sein Verlangen nach dir ist. Und umarmt zu werden, eng.
All das existiert für die meisten Frauen in meinem Alter nicht mehr, weil unsere Welt so auf jugendliche Schönheit ausgerichtet ist, dass ich mich seit einigen Jahrzehnten wie unsichtbar fühle. Hinzu kommt, dass auch ganz gewöhnliche Zärtlichkeiten abnehmen, je älter man wird. Seit ich alt bin, werde ich nicht mehr so fest umarmt. Die Leute formen eher einen Kasten um meinen Oberkörper, statt mich richtig zu drücken – vermutlich aus Angst, eine meiner porösen Rippen zu zerbrechen.
Ich brauche niemanden an meiner Seite, der im Bett Akrobatik mit mir macht. Aber jemanden zu haben, der vor dem Einschlafen einen Arm um mich legt und mir eine Gute Nacht wünscht – das wäre schön.