Als Kind musste ich einmal in der Woche zur Beichte. Das war ungemein gut für meine Kreativität. Schließlich musste ich mir alle sieben Tage etwas ausdenken, dass ich dem Priester erzählen konnte. Es war ein kleines Kunstwerk: Es musste schlimm genug sein, dass es gerade so als Sünde durchging, aber harmlos genug, dass ich nicht zu viele Rosenkränze beten musste.
Das einzige Problem war, dass ich in dem Alter eigentlich noch keine Vorstellung hatte, was eine Sünde denn bitte schön sein soll. Ich war bei meiner Erstkommunion gerade acht Jahre alt und fing an, den Unterschied zwischen gut und böse zu verstehen. Beim Essen gerade sitzen: gut. Eine Scheibe Kuchen aus der Speisekammer klauen: böse. Also erzählte ich dem Priester im Beichtstuhl häufig Geschichten von gemopstem Schokokuchen.
Es gibt einige Dinge, die ich an der katholischen Kirche nicht mag. Diese Vorstellung vom Menschen als Sünder, der sich ein reines Gewissen erflehen muss, zum Beispiel. Das widerspricht allem, was ich aus dem Neuen Testament herauslese. Meiner Meinung nach steht da nämlich nur etwas von grenzenloser Liebe und Vergebung.
Manche in der katholischen Kirche versuchen ja momentan, sie in diese Richtung zu ändern. Aber in meiner Kindheit schaffte es die Kirche noch, mir gehörige Angst einzujagen. In der Leichenhalle auf dem Dorffriedhof war ein Wandgemälde mit dem jüngsten Gericht. Darauf waren Särge zu sehen, aus denen Leichen krochen. Die eine Hälfte strebte einem alten Mann auf einer Wolke entgegen, die andere Hälfte stand in Flammen und krümmte sich vor Schmerzen. Himmel oder Hölle. Sah nach einer ziemlichen 50:50-Chance aus. Dieses Bild brannte sich in meinem Kopf ein, ich hatte immer ein latent schlechtes Gewissen. Nimmt mir Gott das mit dem Schokokuchen vielleicht doch übel?
Ich bin so froh, dass ich diese Angst abschütteln konnte. Ich glaube nicht mehr an ein Leben nach dem Tod. Ich glaube nicht an die Auferstehung des Fleisches und dass Petrus einmal als Türsteher des Himmels entscheiden wird, ob ich rein darf oder nicht.
Mal angenommen, mein Mann säße auf einer Wolke mit einem Glas Weißwein in der Hand. Wie groß soll dieser flauschige Himmel denn bitte sein, dass alle verstorbenen Ehemänner, lieben Hauskatzen und treuen Familienhunde dort unterkommen?
Religion ist meiner Meinung nach der Versuch, etwas Unvorstellbares vorstellbar zu machen. Wie sollen Menschen sonst den Gedanken ertragen, dass ihr Leben mit einem Schlag endet? Die Menschen tun so klug und wissen so wenig. Wir haben noch nicht einmal einen winzigen Ausschnitt des Universums verstanden. Und vielleicht gibt es ja diesen göttlichen Funken im Menschen, den man Seele nennen kann und der Menschen dazu bringt, ihre rohe Selbstsucht abzuschütteln und andere Menschen zu lieben. Und vielleicht ist diese Seele unsterblich und springt nach dem Tod einfach in den nächsten Schmetterling oder in eine dieser wunderschönen schwarzen Krähen, wie sie bei mir immer im Garten sitzen.
Ich glaube hingegen, dass Menschen in dem Moment aufhören zu existieren, in dem sie zum letzten Mal atmen. Aber das ist nichts, was mir Angst macht.
Ich bin wie ein Gänseblümchen auf der Wiese. Irgendwann rupft mich jemand heraus, ich weiß nicht wann. Aber im nächsten Sommer werden wieder Gänseblümchen blühen. Die Schönheit des Lebens ist nicht kleinzukriegen.
Aus meiner Sterblichkeit leite ich nur eine Konsequenz ab: Wenn ich schon nur einen kurzen Moment auf dieser Erde bin, dann soll das auch ein verdammt guter sein. Ich muss keine Angst haben, ich muss nicht über Sünden nachdenken, ich muss einfach nur leben und diesen winzigen Ausschnitt, den ich in der Zeitspanne der Geschichte habe, auskosten. Ich will lachen, trinken und meine Kinder und Enkel mit so viel Liebe überschütten, dass sie, wenn sie an mich denken, immer ein warmes Gefühl haben werden. Das ist die einzige Form von Unsterblichkeit, die ich anstrebe.