3. April
Nattou-Engpass...
In der letzten Folge berichtete ich von einem Nattou-Engpass in den Supermärkten. Sie erinnern sich? Nattou oder auch Nattō, das sind fermentierte Sojabohnen, die ganz fürchterlich stinken, aber ganz wunderbar schmecken. Ich habe geschrieben, das ganze Nattou sei Panikkäufen zum Opfer gefallen, denn laut Medienberichten stärkt es den Körper gegen radioaktive Strahlung. Kürzlich schrieb mir jemand eine E-Mail. Er ist Japaner, wohnt in Tokio, spricht aber Deutsch und liest deswegen regelmäßig mein Tagebuch. Er sagte, die Nattou-Knappheit in Tokio sei nicht auf Panikkäufe zurückzuführen, sondern weil nicht so viel hergestellt werden konnte und auch die Lieferanten Probleme haben.
...durch Stromsparmodus
Es ist nämlich so: Die Stadt Mito in der Präfektur Ibakari ist die Haupt-Produktionsstätte von Nattou. Und um Strom zu sparen, wurde auch dort in regelmäßigen Abständen für zwei bis drei Stunden täglich der Strom abgeschaltet. Dieser angekündigte Stromsparmodus hat dann die Produktion lahmgelegt. Zum Glück gab es in den letzten Tagen keine weiteren Stromausfälle. Ich vermute, wir können schon bald die Rückkehr des Nattous in den Tokioter Supermärkten feiern. Danke für die Aufklärung, lieber Leser aus Tokio.
Eine neue Knappheit
Auch andere Waren wurden in nur unzureichenden Mengen produziert, darunter Zigaretten (argh!) und bestimmte Joghurtsorten. Unzureichend vor allem für Yudai, denn er liebt seinen morgendlichen Joghurt über alles. Neulich sagte er, die aktuelle Joghurtknappheit würde seiner Verdauung schwer zu schaffen machen. Wie Sie sich jetzt vielleicht schon haben denken können: Yudai und ich haben uns wieder zusammengerauft. Rein beziehungsmäßig war es ein Auf und Ab. Ich fühlte mich wie eine Seiltänzerin, stets auf der Suche nach der Balance.
Mein persönliches Beben
Einerseits habe ich mich ermahnt, besser auf ihn einzugehen, ihn nicht immer gleich so harsch zu kritisieren. Andererseits habe ich darauf geachtet, meinen eigenen Kram zu machen, habe mir in vielen Girl-Talks Luft verschafft, so wie viele Generationen von Frauen in meiner Situation vor mir. Yudai verhielt sich dagegen recht normal, er ging eines Abends sogar mal wieder allein tanzen (er tanzt für sein Leben gern). Unsere Beziehung ist fast so, wie in der Zeit vor dem Erdbeben. Dabei möchte ich das eigentlich gar nicht, an jenem Punkt weitermachen, an dem wir uns vor dem Beben befanden. Das Beben, mein persönliches Beben, das körperlich nicht spürbar war, hat Dinge freigelegt, die vorher im Verborgenen lagen. Etwa, dass ich sehr von mir eingenommen war und seine verletzliche Seite nicht gesehen habe. Meine Situation zu Hause hat sich also stabilisiert. Doch andere Dinge sind weiterhin ungewiss.
Anti-Panikmache
Neulich, beim Abendessen in großer Runde, hat einer meiner Freunde das Thema Radioaktivität angesprochen. Er fragte: „Welchen Informationen darf man denn noch trauen?“, und beantwortete seine Frage indirekt selbst: „Diese ganze Angst vor der Radioaktivität nimmt meines Erachtens hysterische Züge an.“ Er sagte, es handele sich um eine „Überreaktion“ und bewusste „Panikmache“. Ich zuckte zusammen. Neben mir am Tisch saß an diesem Abend Kumiko. Sie stammt aus einem Ort, der nur 50 Kilometer von Fukushima entfernt ist. Zur Zeit hat sie Besuch von ihrer Mutter, die sich nach Tokio und damit in Sicherheit geflüchtet hat. Ich weiß nicht, wie sich Kumiko in diesem Moment fühlte. Was, wenn ich selbst aus einer Stadt in der Nähe des Unglücksreaktors kommen würde? Oder generell in der Nähe eines Atommeiler, einer Aufbereitungsanlage oder einem Endlager wohnen würde? Was würde ich denken, wenn mir jemand sagen würde, meine Angst sei eine Überreaktion, verursacht durch Panikmache?
Die Möglichkeit einer Verstrahlung
Interessant ist, dass die Menschen aus den Präfekturen Miyagi, Fukushima und Iwate – sie hat der Tsunami am härtesten getroffen – nicht allzu viele Worte über das Thema Radioaktivität verlieren. Wahrscheinlich sind sie immer noch mit dem Herzen bei den Toten und stecken ihre Energie in den Wiederaufbau ihrer zerstörten Heimat. Die Möglichkeit einer radioaktive Verstrahlung ist da eben immer nur eine Möglichkeit. Die Flutwellen-Schäden haben ein normales Leben hingegen unmöglich gemacht. Ich hingegen, die ich den Kopf frei haben sollte, weil es mir ja gut geht, ich sollte genau darauf achten, was tatsächlich vor sich geht.
Yukos Tagebuch (I) - "Fukushima strahlt in unseren Köpfen"
Yukos Tagebuch (II) - "Ich frage mich was eigentlich bebt - ich oder der Boden unter mir"
Yukos Tagebuch (III) - "In Zeiten wie diesen sollten wir uns selbst Gründe geben, fröhlich zu sein"
Yukos Tagebuch (IV) - "Ich möchte in aller Bescheidenheit etwas klarstellen"
Yukos Tagebuch (V) - "Früher hätte ich gedankenlos gesagt: Ist ja wie ausgestorben hier"
Yukos Tagebuch (VI) - "Die Belanglosigkeit ist wohltuend"
Yukos Tagebuch (VII) - "Die Motivation ist mir abhanden gekommen"
Yukos Tagebuch (VIII) - "Die Radioaktivität läuft durch unsere Wasserhähne"
Yukos Tagebuch (IX) - "Nichts Neues. Es ist herrlich. Heute putze ich"
Yukos Tagebuch (X) - "Die Power Generation Girls in der Dunkelstadt Shibuya"
Yukos Tagebuch (XI) - "Natur > Mensch"