Seit Januar 2009 habe ich 146-mal Geld an Kleinunternehmer in Entwicklungsländern verliehen. Unter den Empfängern waren Sangin Nazarov, Süßigkeitenhändler in Tadschikistan, Andranik Grigoryan, ein Fusselrollenhersteller aus Jerewan, und Jonh Pean aus Kambodscha, der Geld für Lautsprecherboxen brauchte. Okay, ich war selbst überrascht, den Fusselrollenhersteller auf der Liste meiner Kreditnehmer zu finden. Süßigkeiten, Fusselrollen und Lautsprecherboxen sind nicht das, was einem als Erstes zum Thema Entwicklungshilfe einfällt. Aber ich kann alles erklären.
Vermittler zwischen mir und den Kreditsuchenden war die Website kiva.org, auf der man sich anhand bebilderter Beschreibungen aussuchen kann, wem man jeweils 25 Dollar für einen Zeitraum zwischen wenigen Monaten und anderthalb Jahren zur Verfügung stellen möchte. Das 2005 gegründete Kiva ist ziemlich beliebt; seine mehr als 600 000 Nutzer haben bisher eine Viertelmilliarde Dollar verliehen. Das monatliche Auswählen neuer Geldempfänger ist unterhaltsamer als das bloße Ausfüllen von Überweisungen, wie man es von anderen Wohltätigkeitsorganisationen kennt. Außerdem ist das Geld nicht weg, man kann es zumindest theoretisch auch wieder aus der Zirkulation entnehmen und selbst für Süßigkeiten und Lautsprecherboxen ausgeben. In der Praxis profitiert Kiva vermutlich ähnlich wie ein Fitnessstudio davon, dass viele Unterstützer zu träge sein werden, die Zusammenarbeit aufzukündigen.
Als ich Kiva entdeckte, hegte ich eine vage Vorstellung von lustigen bunten Marktständen, an denen freundliche Frauen mit meiner Hilfe jetzt noch mehr selbst angebautes Obst und Gemüse verkaufen würden. Oder was man in diesen Ländern halt Hübsches macht, ich kenne das nur von Fotos, weil ich nie irgendwohin in Urlaub fahre, wo es weder Internet noch einen funktionierenden Rechtsstaat gibt.
Man kann sich die Kreditsuchenden bei Kiva nach Land, nach Geschlecht oder nach verschiedenen Rubriken gefiltert anzeigen lassen, zum Beispiel »Agriculture« oder »Transportation«. Früher gab es noch die Rubrik »Green«, die aber immer leer stand. Das Interesse an Ökoprojekten ist auf der Kreditnehmerseite offenbar eher gering. Auch in der Landwirtschaftsabteilung geht es vor allem um die Beschaffung von Dünger, Herbiziden und Pestiziden, die manchmal höflich mit »Chemikalien zur Steigerung des Ernteertrags« umschrieben werden. Und wer keine Erntechemikalien begehrt, der sucht Geld für eine kleine Schweinezucht. Da ich kürzlich zum zweiten Mal in meinem Leben das Fleischessen eingestellt habe, kommt es mir nicht richtig vor, jetzt ausgerechnet den Schweinebesitz zu fördern.
Dann gibt es noch die Rubrik »Arts«. Den Künstlern fühle ich mich durch meinen Beruf mehr verbunden als den Schweinezüchtern. Außerdem bin ich mit dem Bilderbuch Frederick großgezogen worden, in dem die anderen Mäuse hart arbeiten und Getreide herbeischaffen, während Frederick Farben und Wörter für den langen Winter sammelt. Kunst also! Man muss sie fördern! Das Getreideherbeischaffen hat schon genügend Freunde. Leider finden sich in der Kunstabteilung nur Frauen, die Makramee-Blumenampeln knüpfen oder Sparschweine töpfern. Das habe ich selbst schon im Handarbeitsunterricht ausprobiert und kann sagen, dass es den Winter nicht spürbar verschönert, im Gegenteil.
Frauenförderung wäre eine weitere naheliegende Idee, denn Mikrokredite werden bevorzugt an Frauen vergeben. Die Grameen-Bank, das erste Mikrokreditprojekt, verteilt ihre Kredite zu mehr als 95 Prozent an Frauen, bei Kiva sind es rund 80 Prozent. Frauen gelten als die zuverlässigeren Klienten, man nimmt an, dass sie das Geld nicht gleich vertrinken, sondern in die Zukunft ihrer Kinder investieren.
Die Meinungen über diese Strohfraukredite sind geteilt
Leider ist auch das nicht so einfach. Denn wer Frauen fördern will, der muss Nähen, Kochen und Schönheitssalons unterstützen. Der offensichtlich enorme Bedarf an Schönheitssalons in armen Ländern verwirrte mich zunächst sehr. Ich gewann den Eindruck einer Evolution der Arbeitswelt, in deren ersten Stufen es in armen Ländern nur kleine Lebensmittelläden, Näherei, Ackerbau und Viehzucht und eben Schönheitssalons gibt. Wenn der Zusammenbruch des Euro oder die Zombieapokalypse käme, so stellte ich mir vor, würde auch Europa wieder in Brutalität und Schönheitssalons versinken. Aber auch wenn man durch Kiva einen etwas ungefilterteren Eindruck vom Leben in Entwicklungsländern gewinnen kann als durch Reisemagazine, betrachtet man doch nur einen kleinen Ausschnitt, nämlich den der Kleinstunternehmen. Und Kleinstunternehmerinnen in Entwicklungsländern bevorzugen vertraute Tätigkeiten, die weder Kapital noch Ausbildung erfordern. Weil sie gern in dieselben Berufe einsteigen, die sie in ihrem privaten Umfeld sehen, ist der Markt schnell mit Catering, Nähereien und Schönheitssalons gesättigt. Um auf Veränderungen der Marktlage reagieren zu können, bräuchten sie innovativere Ideen, eine Ausbildung oder Fähigkeiten, die nicht so viele andere Frauen haben.
Es ist allerdings schwer, solche Forderungen an andere Leute mit der rechten Überzeugung vorzutragen, wenn man Germanistik studiert hat und in Berlin was mit Medien macht. Ich habe keine nennenswerte Ausbildung und praktiziere auch nur das, was mir am einfachsten erscheint und was ich täglich um mich herum sehe. Über Konkurrenzangebote, Marktveränderungen, Businesspläne und die Globalisierung denke ich nicht viel öfter nach als eine guatemaltekische Schürzenweberin.
Was die Männer bei Kiva machen, wirkt aussichtsreicher: Sie reparieren Autos, fahren Motorradtaxis oder arbeiten in der Baubranche. Die Globalisierung bedroht diese Tätigkeiten nicht so sehr, denn ein Auto muss vor Ort repariert werden, und auch das Taxifahren und das Wohnen lassen sich nicht einfach auf einem anderen Kontinent erledigen.
Wenn man bei Kiva eine Frau findet, die für eine halbwegs solide Tätigkeit einen Kredit aufnehmen möchte, wird man in der Beschreibung feststellen, dass es das Taxi ihres Ehemannes ist, für das mit dem Geld ein neuer Motor angeschafft werden soll. Die Meinungen über diese Strohfraukredite sind geteilt. Die einen finden, so werde die ursprüngliche Idee einer Förderung von Frauen unterlaufen, die anderen sehen darin immerhin einen Beitrag zur Stärkung der Position der Frau in der Familie. Ich mochte mich nicht für eine dieser Ansichten entscheiden, aber meine Illusionen über förderungswürdige Projekte lösten sich immer weiter auf. Ich brauchte eine neue Strategie.
Wenn man die Kiva-Vorschläge in umgekehrter Beliebtheitsreihenfolge sortieren lässt, dann sieht man nicht mehr lachende Frauen in schön gemusterten Kleidern unter Bäumen sitzen. Jetzt erhält man Einblick in die düstere Welt der libanesischen Autowerkstätten. Muffelig guckende oder anonym verpixelte Männer wollen Geld für Autoersatzteile. »Diese Männer brauchen mich!«, dachte ich und förderte einige Monate lang nur grimmige Gestalten mit unattraktiven Projekten.
Allerdings brauchten auch die mich in Wirklichkeit gar nicht besonders dringend. Erstens haben sie ihren Kredit bereits ausgezahlt bekommen, bevor ihr Gesuch auf der Kiva-Website auftaucht. Es ist keineswegs so, dass sie in ihrer örtlichen Mikrobank herumsitzen, ins Internet starren und auf meine 25 Dollar warten. Sie erfahren auch gar nicht, dass das Geld von Privatpersonen stammt, ihr Ansprechpartner ist der Mikrofinanzdienstleister vor Ort. Als der Mikrofinanz-Blogger David Roodman 2009 auf diesen Sachverhalt aufmerksam machte, erhob sich ein gewisses Murren unter den Kiva-Nutzern, und der Erklärungstext auf der Website wurde schnell geändert. Zweitens brauchen mich die palästinensischen Klempner nicht, weil das Geldangebot bei Kiva die Nachfrage nach den Krediten übersteigt. (Natürlich gibt es genügend Bedürftige. Der Engpass sind die Organisationen vor Ort, die über die Kreditvergabe entscheiden, den Kredit auszahlen und die Rückzahlung betreuen.) Daher sind in der ganzen Kiva-Geschichte nur etwa 200 Kreditanträge nach dem Ende der 30-Tage-Frist erfolglos geblieben. Aber selbst wenn ein Antragsteller zu diesen Unbeliebten gehörte, würde er nichts davon bemerken. Ob bei Kiva genügend Geld zusammenkommt, ist in erster Linie für den Mikrofinanzdienstleister von Interesse, der den Kredit ausgezahlt hat. Klappt es nicht, beschafft dieses Unternehmen das Geld anderweitig, zum Beispiel von einer regulären Bank.
Die Empfänger bezahlen davon Arztrechnungen, kaufen Essen und überbrücken Notlagen
Schließlich sah ich ein, dass meine Entscheidungen, wer mein Geld bekommen sollte, erstens auf den albernen Vorstellungen einer ahnungslosen weißen Person beruhten und zweitens sowieso folgenlos waren. Seitdem fördere ich vor allem Betreiber von Internetcafés und betrachte Kiva als Ersatz für Magazinreportagen aus Entwicklungsländern. Wenn man genügend Kreditanträge aus einer bestimmten Region durchliest, erfährt man immerhin nach und nach etwas über die Lebensumstände anderer Menschen, was nicht in die Form einer journalistischen Geschichte gepresst wurde.
Denn ein Gesetz der Entwicklungshilfe lautet anscheinend: Je besser sich eine Geschichte weitererzählen lässt und je befriedigender sie klingt, desto weniger stimmt sie. Das gilt für die ursprüngliche, aufmunternde Erzählung von Mikrokredit und Unternehmergeist ebenso wie für ihre in den letzten Jahren beliebte Nachfolgergeschichte: Die Begeisterung sei verfrüht gewesen und Mikrokredite machten alles nur noch schlimmer. Die Wirklichkeit ist unordentlicher und komplizierter.
Vielleicht geht es meinen 146 Kreditnehmern ein bisschen besser als vor zwei Jahren. Vielleicht ist ihre Lage schwieriger als früher, weil sie jetzt zusätzlich zu ihren anderen Problemen auch noch Schulden haben. Oder vielleicht hat sich gar nichts Wesentliches für sie geändert. Die Ergebnisse der Mikrokreditforschung – die erst seit wenigen Jahren überhaupt halbwegs belastbare Studien hervorbringt – sind da nicht sehr eindeutig. Relativ einig scheinen sich die Forscher immerhin darüber zu sein, dass nur wenige Menschen überhaupt Unternehmer sein wollen und können. Das ist in Deutschland nicht anders als in El Salvador. Mikrokredite werden häufig für viel weniger unternehmerische Zwecke als die offiziell angekündigten verwendet, die Empfänger bezahlen davon Arztrechnungen, kaufen Essen und überbrücken Notlagen. Das ist auch bereits ein Fortschritt, denn die Mikrokreditzinsen liegen ein bisschen niedriger als beim inoffiziellen örtlichen Geldverleiher. Aber es ist nicht ganz so attraktiv wie die Wundererzählung von den erfolgreichen Kleinstunternehmerinnen.
Es kann also sein, dass meine Kiva-Beteiligung niemandem hilft. Eventuell richtet sie Schaden an, weil meine monatliche Geldverleihrunde mich so selbstzufrieden macht, dass ich mich weniger in anderen, vielleicht nützlicheren Projekten engagiere. Für diesen Effekt sprechen Studien: Versuchsteilnehmer, die im Bioladen eingekauft haben, sind danach eher bereit, zu betrügen und zu stehlen, wir lassen Energiesparlampen länger brennen, und wer sich eine extrasparsame Waschmaschine kauft, wäscht dafür öfter als früher.
Andererseits habe ich durch Kiva mehr gelernt als durch meine bisherigen Begegnungen mit Entwicklungshilfeprojekten. Im Unterschied zu den Organisationen, die mir um die Weihnachtszeit Broschüren über ihre rundum sinnvollen Investitionen und deren strahlende Empfänger zuschicken, konfrontiert Kiva seine Nutzer mit Widersprüchen, Zweifeln und unerwarteten Informationen. Statt Schulen gibt es unromantische Handyverkaufsbuden, statt dankbar guckender Mütter und Kinder bekommt man selbstbewusste, schlecht gelaunte Handwerker. Das weckt Forschungsinteresse: Stimmt es, dass in der Mongolei alle Menschen in Zelten leben und ihre Kinder auf die Universität schicken? (Ja. Nicht alle, aber ziemlich viele.) Ist es wirklich sinnvoll, so viele Näherinnen in Entwicklungsländern zu fördern, wenn wir gleichzeitig Containerschiffe voller Kleiderspenden in dieselben Länder schicken? (Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie’s rausgefunden haben.) Was bewirken Mikrokredite, und wie kann man das überhaupt erforschen? (Ein fast unerschöpfliches Googlethema.) Ist es legitim, dass Hilfsorganisationen die unordentliche Realität zu hübschen, aber nicht ganz korrekten Geschichten formen, wenn sich dadurch die Spendenbereitschaft erhöhen lässt? Und was sind überhaupt Erfolg versprechende Einsatzzwecke dieser Gelder, wenn es nicht nur darum gehen soll, die Spender zu unterhalten und die Arbeitsplätze von Entwicklungshelfern zu sichern?
Ich werde noch ein paar Jahre lang das Internet durchlesen müssen, um mehr darüber herauszufinden. Aber wenn jemand nachfragt, ob ich eigentlich den ganzen Tag nur rumliege und das Internet durchlese, kann ich schon mal erwidern, dass ich jedenfalls meinen Teil zur Fusselfreiheit Jerewans beigetragen habe.
Fotos: dapd, reuters (3)