Betteln im Intercity

Geschlossene Bordrestaurants und keine EC-Kartenzahlung. Manchmal ist das gastronomische Angebot der Deutschen Bahn zum Verzweifeln. Aber was tun, wenn man wirklich hungrig ist? Unser Autor über eine Fahrt, bei der er alle Schamgefühle überwinden musste.

Ich hätte nicht gedacht,  dass ich einmal um Essen würde betteln müssen. Aber dann steige ich in einen Intercity und eine Durchsage klärt mich darüber auf, dass der Zug heute leider ohne Bordrestaurant und Bistro verkehre. Ich habe seit sechs Stunden nichts gegessen und mir ist schon ein wenig übel vor Hunger. Aber noch habe ich keine Bedenken, denn der Zugbegleiter erwähnt in seiner Durchsage, dass ein Snackwagen im Zug unterwegs sei. Zwei Waggons weiter finde ich ihn und bestelle ein Sandwich. Der freundliche Mitarbeiter hält es mir hin, ich hole meine Brieftasche heraus – und sehe, dass ich keinerlei Bargeld mehr habe. Stimmt ja, gestern Abend habe ich mit den letzten Münzen eine Runde in der Kneipe beglichen. Dann der Schock: Kartenzahlung ist nicht möglich. Mit Bedauern lässt der Snackverkäufer das Sandwich wieder verschwinden. Und ich rechne – noch drei Stunden Fahrt, jetzt schon Bauchschmerzen vor Hunger.

»Ein gastronomisches Angebot ist fester Bestandteil des Services im Fernverkehr«, schreibt die Deutsche Bahn auf Anfrage. »Daher findet sich auch in fast allen Fernverkehrszügen ein Bordrestaurant und/oder Bordbistro. Im Intercity 2 bieten wir einen Am-Platz-Service an.« Jeder regelmäßige Bahnfahrer kennt allerdings die gar nicht so seltenen Durchsage »Leider verkehrt dieser Zug heute ohne Bordrestaurant«.  Die Bahn gibt dazu keine Zahlen heraus. Ein Leser schrieb mir aber zum Beispiel, dass auf seiner Standard-Verbindung zuletzt ständig der Speisewagen geschlossen hatte. Zudem bekommt man ohne Bargeld schnell Probleme. Bis zum heutigen Tag gibt es noch nicht mal in jedem Speisewagen die Möglichkeit, mit EC-Karte zu zahlen. Das ist laut Bahn erst möglich, wenn »das neue Kassensystem deutschlandweit eingeführt worden ist«, was »in Kürze« der Fall sein wird. Zumindest Kreditkarte soll heute bereits flächendeckend funktionieren – nicht allerdings bei den mobilen Snackverkäufern. Dort ist grundsätzlich keine Kartenzahlung möglich.

Mich trifft das unerwartet: Wo braucht man heute schon zwangsläufig Bargeld? Ich überlege, auszusteigen, checke per Smartphone die nächsten Verbindungen – alle mit Regionalzügen, ich wäre Stunden länger unterwegs. Wie viel einfacher wäre es, wenn mir einfach ein Mitreisender helfen würde. Ich brauche ja wirklich nicht viel, kein Menü, schon gar kein Geld, sondern nur zwei Bissen, um meinen Magen zu beruhigen. Die Idee, jemanden um Essen anzuschnorren, erscheint mir genauso zwangsläufig wie wahnsinnig. Aber es kann doch wohl nicht sein, dass ich entweder Stunden länger unterwegs sein werde oder unter Schmerzen leide, nur weil ich mich einfach nicht traue, um Hilfe zu fragen.

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Ich gehe durch den Zug und betrachte gründlich, was vor Menschen auf dem Tisch liegt. Ein frischer Laib Brot und ein Camembert finden sich etwa vor einem circa 60-Jährigen mit Schnurrbart – leider schaute der Mann sehr schlecht gelaunt aus. Ich gehe weiter, passiere ein Ehepaar Mitte 50 mit einer Schachtel Kekse. Sie wirken ein bisschen spießig, außerdem: sich vor zwei Leuten zu blamieren ist schlimmer, als vor einem. Also weiter. Plötzlich erspähe ich ein Baguette auf einem Tisch, dahinter eine circa 40-jährige Frau, die ein Buch liest und sympathisch wirkt. Aber ich traue mich wieder nicht und passiere sie. Blöd, besser wird es nicht, denke ich, als ich durch die nächste Tür gehe. Ich atme tief durch, kehre um und bleibe vor der Frau stehen.

»Entschuldigung, ich habe eine, äh, etwas seltsame Bitte.« Sie schaut von ihrem Buch auf. Es ist so schlimm, was mache ich, wenn sie »nein« sagt? Ich rede trotz meines Schamgefühls weiter, jetzt, wo ich schon soweit gekommen bin. »Ich habe kein Bargeld, der Snackverkäufer nimmt keine EC-Karte – und ich habe großen Hunger. Könnte ich bitte ein Stück Brot von Ihnen bekommen?« Die Frau starrt mich an. Sie wirkt geschockt, dass ich sie um Essen anbettele. Wie schlimm muss es um jemanden bestellt sein, der so etwas macht – und tatsächlich fühle ich mich, als wäre ich blitzschnell aus meinem Mittelklasse-Leben abgestürzt. Die Frau bricht schnell ein Stück Baguette ab, sagt erschreckt. »Bitte.« Ich greife zu.  »Vielen Dank, sie haben mich gerettet«, antworte ich. »Schon okay…«, murmelt sie. Offensichtlich ist ihr das Ganze ähnlich peinlich wie mir.  Ich verdrücke mich schnell durch den Gang, ohne zurückzuschauen auf die anderen Passagiere, die mir jetzt wohl sehr befremdet hinterher blicken. Dann verschlinge ich das Baguette.

Seit diesem Vorfall weiß ich, wie schnell man in eine Notlage kommen kann und bin großzügiger mit Bettlern. Vor allem steige ich aber in keinen Zug mehr, ohne Essen und Getränke bei mir zu haben.