»Die Vorurteile gehen über Bord«

Der Sommer geht zu Ende, und mitten unter uns leben jetzt Flüchtlinge. Wir haben die bewegendsten Begegnungen unserer Leser mit jenen Menschen gesammelt, die #neuindeutschland sind.


    Unterricht

    24 und 57: So alt sind Halil und seine Mutter Fatima. Sie kommen aus Syrien, jetzt gebe ich ihnen ehrenamtlich Deutschunterricht. Er war Student, sollte gegen seinen Willen als Soldat in den Krieg ziehen. Da blieb nur die Flucht. Seine Mutter begleitete ihn: Über die Türkei, mit einem Boot nach Griechenland, von dort zu Fuß über den Balkan. Und das mit 57! Trotz der Strapazen lacht Fatima viel. Sie ist gläubige Muslimin, trägt Kopftuch. Mir gegenüber ist sie immer gut gelaunt, redet viel, gibt sich Mühe mit der deutschen Aussprache. "Während ich mit den beiden Vokabeln pauke, überschütten sie mich nicht nur mit Fragen, sondern auch mit Essen und Getränken." Bringen mir sogar etwas Arabisch bei. So sitzen wir Woche für Woche in dem 8m²-Zimmer, dass sich Halil und Fatima zu zweit teilen. Daneben ein Badezimmer – für insgesamt 13 Personen. Doch mehr Privatsphäre ist für sie im Augenblick nicht das wichtigste. Auf meine Frage, was sie am meisten vermisst, antwortet mir Fatima: „Meine anderen Kinder. Und einen Aerobic-Kurs!“
    Marc Guschal, Ortenaukreis

    Neue Nachbarn
    In das Haus neben uns sind sechs muslimische Flüchtlingsmädchen eingezogen. Das Haus gehörte einem katholischen Pfarrer, der dieses, nach seinem Tod, der Flüchtlingshilfe vermacht hat. Wir leben lange Tür an Tür, mehr als Hallo und ein Lächeln teilen wir nicht - bis ich mein Baby bekomme, und im Briefkasten eine bemalte Karte und ein selbstgemachtes, handgeknüpftes Babyspielzeug liegen...
    Anna Burchard, Prien

    Platzverweis
    Mit dem Zug war ich auf dem Weg von München nach Berlin, es war der Tag des Champions League Finales. Ich saß in der 1. Klasse, leisten konnte ich mir das eigentlich nicht, habe als Bahncard-Kunde aber ein Upgrade erhalten, wegen der vielen Streiks und Verspätungen der Wochen zuvor. Der Waggon war geteilt, hinter einer gläsernen Schiebetür saß in der 2. Klasse eine Gruppe junger Männer. Ich schaute auf dem Laptop die Übertragung Fußballspiels, und sank mit einer Tüte Nüsse zufrieden in den Ledersessel. Die Jungs nebenan bemerkten, dass ich das Spiel verfolgte. Einer fasste Mut, kam auf mich zu und fragte in gebrochenem Englisch nach dem Spielstand. Ich bot ihm an, mitzuschauen, in Sekunden saßen die anderen strahlend um ihn herum. Schnell wurde mir klar: Diese Gruppe fuhr nicht einfach so in die Hauptstadt. Es war die vorerst letzte Etappe ihrer Flucht – aus Somalia, Syrien, Libyen und Usbekistan. Ein Behördenpapier, einsprachig auf Deutsch in einem Schriftbild, das sie nicht lesen konnten, wies das Ziel ihrer Reise aus: Berlin, Turmstraße 21. Wir verständigten uns mit Händen und Füßen, mit Zeichnungen und dem Google-Translator. Sie erklärten mir, woher sie kommen, erzählten von den Torturen ihrer Flucht, das Haus in Homs ist auf Google Maps noch unversehrt. Unser Englisch war mindestens so halsbrecherisch wie die Spielzüge des spanischen Mittelfelds. Als die Schaffnerin kam, schwiegen wir alle. Vielleicht war es die Uniform, vielleicht der Gesichtsausdruck der Dame. Wortgewandt ging ich in die Offensive, denn natürlich hätten die Jungs mit ihren Fahrkarten nicht in der 1. Klasse sitzen dürfen. Aber die Tickets waren gar nicht das Problem. Fahrgäste hätten sich beschwert. Mein Blick schweifte durch das Abteil - wir waren nicht sonderlich laut und der gesamte Bereich der 1. Klasse war leer. »Nein, Fahrgäste der 2. Klasse haben sich beschwert.« Zuerst verstand ich nicht, dann war ich für einige Sekunden sprachlos. Ich packte den Laptop und meine Sachen und wir zogen um. Ich habe ihnen nicht erklärt, warum.
    Julian Oppmann, Düsseldorf

    Meistgelesen diese Woche:

    Finderlohn
    Vor kurzem sind in Schrobenhausen nun auch Flüchtlinge eingezogen. Anfangs in der Stadthalle, gegenüber vom Busbahnhof und einem Spielplatz, auf den ich gern mit meiner Tochter gehe. Eines Nachmittags spielen wir wieder einmal dort, planschen am vorbeilaufendem Wasser, machen Fotos mit dem neuen Smartphone und fahren heim. Erst am Abend merke ich: Mein Smartphone ist nicht da! Liegen gelassen am Spielplatz. Das ist bestimmt schon weg, bei den ganzen Jugendlichen und – ja leider der Gedanke: Flüchtlingen in der Gegend. Kurz entschlossen rufe ich meine Nummer an und prompt geht eine junge Frau ans Telefon: Ja, das Telefon wurde gefunden, von den Flüchtlingen! In der Stadthalle könne ich es abholen. Ich kann mein Glück kaum fassen und springe ins Auto. Leicht nervös betrete ich die Stadthalle. Da sind sie, die Flüchtlinge, die schon so lange und weit weg in den Medien vorkamen. Direkt vor mir. Eine junge Schrobenhausenerin von der Bürgerhilfe winkt mir mit meinem Handy und stellt mir ein hübsches, schüchternes Mädchen vor, die das Telefon gefunden hatte. 13 Jahre alt und aus Afghanistan. So wie die anderen acht bis zehn Personen am Tisch. Ich bedanke mich und händige ihr einen Schein als Finderlohn aus. Sie winkt ab und weicht zurück, schüttelt den Kopf, ängstlich. Erst ein Übersetzer versichert ihr, dass das in Deutschland als Finderlohn gilt, absolut in Ordnung ist und sie es doch annehmen soll. Auf der Heimfahrt merke ich, wie groß meine Vorurteile waren. Angst vor den Flüchtlingen habe ich jetzt jedenfalls keine mehr.
    Julia Munkert, Aresing

    Traiskirchen
    Samstagmorgen, ich surfe durchs Internet und bleibe bei Meldungen über Traiskirchen hängen.  4000 Menschen in einem Lager, das für 480 Personen gedacht war. Mangel an praktisch allem. Menschen fangen an, private Hilfsaktionen durchzuführen. Geschichten, die man nur aus Drittweltländern kennt, jetzt also direkt vor unserer Haustür. Eine Meldung fällt mir besonders auf: Hilfsorganisationen nähmen keine kleinen Zelte als Spende an, weil die Zelte nicht aufs Gelände gebracht werden dürften – man argumentiere damit, dass die Zelte als Waffe benutzt werden könnten. Das finde ich so unglaublich, so abstrus, dass der Teil meines Gehirns, der für zivilen Ungehorsam zuständig ist, das Kommando übernimmt. Ein Stunde später ist mein Zelt am Motorrad festgeschnallt, und ich bin auf dem Weg nach Traiskirchen. Als ich dort auf die sogenannte Erstaufnahmestelle Ost stoße, bin ich erst mal überrascht. Auf der Straße und hinter dem Zaun sind viel weniger Menschen als erwartet. Es bleiben immer wieder Autos am Straßenrand stehen von denen aus Spenden verteilt werden. Alles läuft sehr ruhig ab, es gibt kein Gedränge, keine Hektik. Ich stelle das Motorrad ab, und schaue mich etwas ratlos um. Hinter dem Zaun stehen zwei Frauen mit kleinen Kindern, die gerade Wasserflaschen gereicht bekommen. Ich gebe einer davon die Decke durch den Zaun. Einem ca. 14 jährigem Jungen gebe ich mein Zelt und die Isomatte. Zumindest hat heute Abend, wenn der Regen kommt, jemand ein Dach über dem Kopf. Die Frau bedankt sich mit einem Nicken und einem Lächeln. Ich lächle zurück, aber die Situation ist mir auch irgendwie unangenehm. Die Decke ist mindestens 10 Jahre alt, und allein die Motorradjacke die ich anhabe, kostet mehr als das Zelt und die Isomatte zusammen. Wir haben so viel. Und die so wenig. Etwas abseits steht auch ein älterer Mann der beständig zu mir herüber schaut. Als ich zu ihm gehe und ihn grüße, fragt er mich als Erstes, wie es mir geht. Das bringt mich für eine Sekunde aus dem Konzept; ich müsste doch ihn fragen, er ist ja in der schwierigen Situation, nicht ich. Es ist komisch, aber irgendwie geniere ich mich dafür, dass er da drinnen steht und ich draußen bin. In gebrochenem Englisch erzählt er mir, dass es momentan ein bisschen entspannter sei als in den letzten Tagen, weil heute und gestern viele Menschen verlegt worden seien. Nur die Sicherheitslage sei ein großes Problem. Es gäbe immer wieder Streits wegen Zelten, Schlafplätzen, Essen. Die Lager-Security hält sich heraus und schaut weg. Als ich dem Mann zum Abschied durch die Gitterstäbe hindurch die Hand schüttle, fühle ich wieder diese Mischung aus Scham und Hilflosigkeit. Während der Heimfahrt frage ich mich, wie es mit ihm wohl weitergehen wird. Ich denke an die immer extremer werdenden Standpunkte in den Medien und Internetforen. Und daran, dass die Zahl an Menschen, die in Europa Schutz suchen, in den nächsten Jahren sicher noch steigen wird. Nach einer halben Stunde Fahrt komme ich wieder in meiner verträumten Vorstadtidylle an, wo ich mich dann abends, nach der vierten Mahlzeit des Tages, mit einem Bierchen auf die Terrasse setze und versuche, eine Antwort auf die Frage zu finden: »Soll ich mir ein Standgerät oder ein Notebook kaufen?« Und eines geht mir immer wieder durch den Kopf: Wir haben so viel. Und die so wenig.
    Matthias Honies-Karasek, Wien

    An der Kasse
    An diesem Tag erreichen fünfzig neue Flüchtlinge unsere Stadt. Junge Männer aus 
Schwarzafrika sowie einige Syrer, die in die neu errichtete Containersiedlung 
einziehen. Nicht weit davon entfernt, liegt eine Filiale eines großen deutschen 
Discounters, bei dem ich nach der Arbeit meine Einkäufe erledige. An der Kasse
lausche ich dem Gespräch einer gestressten Kassiererin mit einer
 deutschen Kundin: »Den ganzen Tag muss ich schon Englisch schwätzen«, beklagt
 sich die Verkäuferin in breitem Dialekt genervt. Vor mir in der Reihe steht
 einer der besagten Neuankömmlinge. Er hat seine Einkäufe fein säuberlich
 auf das Band gelegt, so recht scheint er aber noch nicht zufrieden zu sein.
Seine ganze Aufmerksamkeit ist auf das durch ein Gitter abgeriegelte 
Zigarettenfach gerichtet. Als er endlich an der Reihe ist und zunächst einen
 unfreundlichen Blick der Verkäuferin kassiert, nimmt er seinen ganzen Mut
 zusammen und fragt höflich, auf Englisch, wie er denn an die Zigaretten komme.
 Ein harscher Knopfdruck, und das Gitter fährt geräuschlos nach oben. Auf dem
zuvor noch schüchternen Gesicht des Afrikaners breitet sich ein glückliches
 Strahlen aus. Ich bin froh, dass er noch kein Deutsch versteht. Seine spontane und
 überschwängliche Dankbarkeit hat vielleicht auch das Herz der Kassiererin
erweichen können. 

    Sabine Weisel, Bad Wurzach

    Glück auf
    Ich arbeite bei »Climb«, wir führen Ferienangebote für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung durch. Es ist Ausflugstag: Wir fahren mit 25 Jugendlichen zwischen 16 und 22, kaum einer länger als ein halbes Jahr in Deutschland, in das Bochumer Zechenmuseum. Die Kids wohnen in Dortmund, kennen außer Schule und Aufnahmestelle kaum etwas, nun erkunden sie begeistert Förderturm, Schächte und Förderbänder. Der Museumspädagoge führt die Gruppe durch die Ausstellung, und obwohl selbst uns BetreuerInnen vor lauter Fachbegriffen der Kopf schwirrt, hängen ihm die Kids an den Lippen – trotz Sprachschwierigkeiten: Wetterschacht, Kokerei, »Glück auf!« und Bergmannslieder, alles wird erklärt und erkundet. Auf dem Förderturm genießen wir die Aussicht über den Pott, »Da ist Dortmund!« sagt einer begeistert, »ich erkenn das U! Da wohnen wir!« Als zwei BetreuerInnen zur Gruppe dazukommen, werden sie fröhlich im Chor begrüßt: »Glück auf!« Gänsehaut. Die Kids sind im Ruhrgebiet angekommen.
    Charlotte Frey, Ruhrgebiet

    Ich frag mich, wofür die so viele Fuchzgerl brauchen

    Gleis-Arbeiten
    An diesem Montag bin ich von Berlin nach Hannover gefahren. In meinem Zugabteil saß ein älterer Mann. Um die 50. Arabischer Herkunft. Er sah etwas lädiert aus und sprach nur drei deutsche Wörter - „Ich“, „Arabien“, „Hannover“. Nur sein Englisch war noch schlechter. Er versuchte sich mit Gesten zu verständigen und wollte wissen, ob er im richtigen Zug sitzt und wann er aussteigen müsse. Er hatte einen Zugwechsel in Hannover vor sich, wie ich an seinem Ticket erkannte.
    Ich versuchte ihm klar zu machen, dass ich auch in Hannover aussteigen müsse und ihn gerne mitnehme. Er hat es nicht wirklich verstanden, anhand meines Verhaltens jedoch erkannt, dass ich ihm helfen wollte. Nachdem ich mich wieder zurücklehnte, kam mir dann die Idee meinen Satz in die Google-Translator-App einzugeben und auf Arabisch übersetzen zu lassen. Ich zeigte ihm mein Smartphone. Er nahm eine Brille mit nur einem Bügel und ziemlich verschmierten Gläsern aus der Innentasche seiner Jacke. Als er den Satz las, lächelte er mich an mit einem dankenden Nicken. Immer wieder nickte er. Das macht man wohl so, da wo er herkommt.
    Als wir in Hannover ankamen, nahm ich ihn mit. Bei sich trug er nur eine Plastiktüte. Auf dem Gleis versuchte er erneut etwas zu fragen. Es war wieder völlig unverständlich. Auch die Gesten waren irgendwie nichtssagend. Ich vermutete, dass er nach dem Anschlussgleis fragte und wollte es ihm zeigen, was er wiederum nicht verstand. Glücklicherweise stand aber eine deutsch-arabische Familie am Gleis. Vater und Mutter hatten ihre Tochter abgeholt. Der Vater bemerkte unser Gespräch und fragte ob er helfen könne. Beide Männer sprachen dann in einer mir nicht bekannten Sprache miteinander. Der Inhalt entzog sich mir also erst, aber ich blieb trotzdem noch etwas länger bei ihnen stehen.
    Der Vater erklärte dem Alten scheinbar den Weg, wie ich zwischen den Zeilen verstehen konnte. Die Gesten vermittelten wieder. Schlussendlich bot er ihm an, ihn zu seinem Gleis zu bringen. Ich fragte den Vater, ob der Mann ein Flüchtling sei. Der Vater antwortete mir, dass es danach aussieht. Wir brachten ihn dann alle gemeinsam zum Gleis. Als wir ankamen, verbeugte sich der Mann tief. Nicken war offenbar nicht mehr die passende Geste für diesen Moment.
    Als ich in meiner Wohnung ankam, meine Tasche auf den Boden warf und mich auf mein Bett legte, wurde mir klar, wie gut ich es doch habe. Dass ich jetzt schlafen könne. Mich ausruhen von dem ereignisreichen Wochenende in Berlin und der Zugfahrt, die verglichen mit dem Weg des Mannes ein Witz gewesen sein muss. Ich lag dann noch sehr lange wach und starrte an die Decke. Meine erste Begegnung mit Flüchtling. Hätte ich nicht mehr tun können?
    Andreas Weck, Hamburg

    Fuchzgerl
    Viele in Bad Hindelang haben gemeint, man müsste die Schlüssel aus den Blumenkübeln nehmen und die Tür absperren, wenn die Jungs aus Afrika kommen. Man hat sie mitten im Ort einquartiert, vierzig Jungs aus Eritrea, Somalia, Nigeria und dem Senegal. Und was passiert? Ich arbeite in der Touristen-Information, und unsere eritreischen Asylbewerber kommen in regelmäßigen Abständen zu mir und lassen sich einen 5-Euro-Schein in 50-Cent-Stücke wechseln. Ich frag mich, wofür die so viele Fuchzgerl brauchen, für den Kaugummiautomaten oder Zigaretten? Keine Ahnung. Also frag ich, natürlich auf Englisch, wofür braucht ihr lauter einzelne Fuchzgerl? Mit allem und mit nix rechne ich da, bloß nicht damit: Die Jungs aus Afrika schauen mich mit verwunderten Augen an, aber ihre Antwort ist ganz selbstverständlich: »For the church, my sister.« Hunderte von Leuten sagen mir im Tourismusbüro täglich »Danke«, Danke für die Beratung, und so weiter. Wenn die Jungs aus Afrika ein Fuchzgerl in den Klingelbeutel werfen, ist das auch ein »Danke«, für Gott und die Kirche. Sie bedanken sich, weil es ihnen gut geht.
    Andrea Kircher, 28, Bad Hindelang (protokolliert von Marianne Moesle)

    Transit
    Im Zug heim von der Eröffnung der Biennale in Venedig. Ab Verona saßen wir in einem Vierer-Abteil und mit uns ein junger Typ, dunkle Haut und dunkle Augen, Herkunft unbekannt, er sprach kein Wort und sah uns nicht an. Er hatte nichts dabei außer einer kleinen Blechdose in Herzform, darin zwei Datteln und drei Mandeln. Wir haben ihm unsere Äpfel, Pfirsiche und Sandwiches angeboten, er hat alles abgelehnt. Dann habe ich meine Tüte Mulino-Bianco-Kekse aus dem Koffer gefischt, darin waren kleine Kuchen, alle einzeln verpackt. Die hat er dann angenommen und jeden der Kekse unendlich langsam ausgepackt und – so schien es – unter höchster Anstrengung, sie nicht im Ganzen herunterzuschlingen, unendlich langsam gegessen. Nachts am Bahnsteig in München kamen aus dem ganzen Zug einzelne Männer wie er. Sie haben sich wie einem unsichtbaren Zeichen folgend zu einer Gruppe zusammengetan, kein Wort geredet, und sind im Untergrund des Bahnhofs verschwunden. Sie waren offenbar nicht ziellos, aber doch verloren.
    Katharina Wulffius, München

    Kleines Solo
    Tief im Osten Frankfurts, wo kein einziger Bankenturm steht, hat die Stadt Flüchtlinge untergebracht, junge Männer, viele von ihnen aus Syrien. Sie langweilen sich oft, das versteht jeder, der die Ecke kennt. Häufig sieht man sie  an der Bushaltestelle des 44er Busses an der Leonhardsgasse im Stadtteil Seckbach. Dabei wollen sie nicht mit dem Bus fahren. Sie wollen nur einen Treffpunkt haben, außerhalb von Mehrbettzimmern und Gemeinschaftsküche. Die Bushaltestelle ist die Endstation für eine Linie, die quer durch den Osten Frankfurts fährt. Die Fahrer machen dort Pause. Vor ein paar Tagen stieg einer von ihnen aus seinem Fahrzeug, packte sein Saxofon aus und spielte. Ich weiß nicht, ob er seit Jahren in jeder Pause musiziert oder ob er ein Konzert für die Asylsuchenden geben wollte. Ich weiß nur: Den Menschen an der Haltestelle hat es gefallen. Sie haben lange Beifall geklatscht.
    Anne Lemhöfer, Frankfurt am Main

    Happy Country

    Mit meinem Fahrrad aus Jugendtagen verbinde ich viele schöne Erinnerungen. Sogar nach Berlin hat es mich als Volontärin begleitet. Seit einigen Jahren aber stand es meist im Keller rum. Weil ich immer wieder gelesen habe, dass die Flüchtlinge in den Kasernen und Heimen viel herumsitzen und nur wenig mobil sind, habe ich es jetzt an eine Flüchtlingsinitiative in der Nachbarschaft verschenkt. Wenn ich Zeit habe, gehe ich noch einmal hin und packe mit an: beim Sortieren, Sachen Entgegennehmen und was sonst anfällt. Die Leute, die sich zu uns flüchten, haben so viel durchgemacht. Ich weiß nicht, wer der neue Besitzer ist, aber ich hoffe, dass mein Rad ihm Glück bringt und seinem Namen Ehre erweist: Das Modell heißt »Happy Country«.
    Ursula Hinterberger, München

    Bürgerpflicht
    Ich arbeite als Hausmeister und Gärtner. Ich will nicht diskutieren, ob man Neger oder Flüchtling oder Asylbewerber sagt, ich mache mit meinen Jungs aus Afrika verstopfte Kloschüsseln durch, drehe kaputte Birnen in Fassungen, und abends sitzen wir zusammen und haben unsern Spaß. Und wenn ich mit ihnen auf einen Schotterweg knie und Unkraut zupfe und denen sage, dass das halt keine schöne Arbeit sei und dass sie leider auch nur einen Euro dafür bekämen, dann sagt einer zu mir: »Warum, ich bin jetzt Bürger von Hindelang und will auch meinen sozialen Beitrag für das Dorf und die Bevölkerung leisten. Ein Euro ist genug, außerdem kriege ich ja noch Sozialgeld.« Hat er eigentlich Recht, denke ich und wundere mich über nix mehr, außer über das Stammtischgeschwätz.
    Apropos Sozialgeld, da war Zahltag, und einer der Jungs hat sein Kuvert mit 320 Euro im Asylheim auf der Treppe verloren. Ein anderer findet es, und dann wird das volle Kuvert auf der Suche nach dem Verlierer tatsächlich zwischen Flüchtlingen aus Eritrea, Nigeria, Somalia und dem Senegal hin und her gereicht. Bloß, der Verlierer traut sich nicht, sich zu melden. Über meine Whatsapp-Gruppe frag ich die Ältesten der jeweiligen Gruppen an. Und die finden tatsächlich den Verlierer und der kriegt sein ganzes Geld wieder.
    Wir wissen nicht, wie es weiter geht, nur soviel, wir sitzen alle in einem Boot. Im Mittelmeer gehen Leute über Bord, wenn sie es aber schaffen und in der Adler-Post hier in Bad-Hindelang ankommen, dann gehen bei uns die Vorurteile über Bord."
    Uli Weber, 39, Bad Hindelang (protokolliert von Marianne Moesle)

    Geschichten aus der Hölle
    Zuerst wollte ich Chinedu, einem 17-jährigen Nigerianer, nur bei seinen Deutsch-Hausaufgaben helfen. Aber das hat sich bald geändert. Angefangen hatte es, als ein Sozialarbeiter in meinem Buchladen nach Deutschlernbüchern für jugendliche Flüchtlinge fragte. Ich bot an, mit einem von ihnen lesen zu üben. Nebenbei, in der Lese-Ecke, wenn gerade keine Kunden zu bedienen sind. Chinedu war erst sehr schüchtern. Redete leise. Schaute mir nicht mal in die Augen. Als er dann auftaute, konnte er nicht mehr aufhören zu erzählen. Vom Tod seines Vaters bei einem Angriff von Boko Haram. Vom Leben in den Fängen eines Kriminellen. Von Blutopfern. Wie Kinder in Nigeria einfach verschwinden, für magische Rituale geopfert werden. Ich war schockiert – vor allem von der beiläufigen Art, mit der Chinedu das alles berichtete. Seiner gefühlten Einsamkeit. Warum sollte ich nicht, nachdem mein Sohn längst volljährig ist und seinen Weg geht, noch einmal einem jungen Menschen Rückhalt geben? Chinedu braucht mich inzwischen nicht mehr zum Lesen. Sondern zum Reden. Und zum Zuhören. Jetzt verabreden wir uns für Spaziergänge: Ich zeige ihm den Viktualienmarkt und die schönen Seiten von München. Und erlebe unsere Normalität hier noch dankbarer als früher.
    Petra Schulz, München (protokolliert von Jonathan Fischer)

    War noch beim Fußball, dann im Asylheim

    »Mum« für viele
    Ich bin bei den Nachbarn, da krieg ich eine Whatsapp-Nachricht von meinem Sohn Niklas, 17, der auf dem Frühlingsfest beim Cannstatter Wasen ist: »... war noch beim Fußball, dann im Asylheim und hab jemanden mitgebracht, ist extrem nett und würde dich gern kennen lernen. Bin jetzt zuhause.« Komisch, eigentlich ist es nicht seine Art, und im Asylheim waren wir auch noch nie. Ich war schon ein bisschen skeptisch. Aber als ich dann nach Hause komme, sitzen meine beiden großen Söhne auf dem Sofa und mitten drin: Saikou, ein schwarzer Junge, etwas älter als meine Söhne. Einen Laptop auf den Knien, Saikou ist gerade am Erklären, woher er kommt. Aus Gambia, wir googeln Gambia, meine Jungs haben noch nie etwas von diesem Land gehört. Dann zeigt Saikou ihnen seine Fluchtroute über Libyen und das Mittelmeer nach Europa. Wir sitzen noch lange zusammen und Saikou erzählt, was er in den vergangenen zwei Jahren erlebt hat. Trotzdem lacht er viel und ist so offen. Ich weiß nicht mehr genau, aber ich glaube es war gleich an diesem Abend, dass er immer wieder »Mum« zu mir sagte. Zuerst hat mich das irritiert, aber jetzt bin ich eben die Mum, die Mum von vielen, die jeden Tag in die Kirchheimer Containersiedlung geht, als Krankenschwester die Verbände wechselt oder mit den schwarzen Jungs Arbeit sucht. Sie lernen Deutsch mit meinen Jungs, manchmal gehen wir alle zusammen Eisessen und werden schon ein wenig komisch angeguckt. Aber egal, wenn Saikou mit seiner Mum in Gambia telefoniert und ihr erzählt, dass er in Deutschland auch eine gute Mutter gefunden hat, freut mich das irgendwie.
    Carla Wartha, 48, Kirchheim/Teck (protokolliert von Marianne Moesle)

    Musik verbindet
    Paali und ich waren uns schon zwei, drei mal in der S-Bahn begegnet, ich auf dem Weg zum Job, er auf dem Weg in die Deutsch-Schule für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Als ich ihm wieder mal im Abteil gegenüber saß, mit Kopfhörern auf den Ohren, im Takt nickend, sprach er mich an: »Hörst du coole Musik?« So kamen wir ins Gespräch, stellten fest, dass wir beide Musik machen und fast Nachbarn sind. Ich lud ihn ein. Zusammen mit Freunden haben wir uns dann fast jede Woche an der Isar zum musizieren getroffen. Ich mit Gitarre, er mit Trommel. Wobei er auch die Blues-Mundharmonika im Handumdrehen heraus hatte. Was mich noch mehr beeindruckte: Als Paali mich zum ersten Mal daheim besuchte, hat er meinen defekten Laptop in Windeseile repariert. Der kennt sich mit Computern aus – weil er als Teenager in Gambia in einem Computerladen gejobbt und kaputte PCs repariert hatte. Ich hatte nicht gedacht, dass Flüchtlinge aus Westafrika als Analphabeten hier ankommen. Aber Paalis Neugier und Lerneifer erstaunt mich doch immer wieder. Neulich hat er mich gebeten, ihm bairisch beizubringen. Als gebürtiger Mittenwalder ist mir das natürlich eine Ehre. »Habedere« und »griaßts eich« hat Paali inzwischen fließend drauf...
    Dennis Hopfe, München (protokolliert von Jonathan Fischer)

    Reise ins Ungewisse
    Ich war Mitte April mit meinem Freund auf Autorundreise in der Türkei. Irgendwann kamen wir nach Fethiye, eine kleine Stadt an der Südküste. Wir saßen am nett zurechtgemachten Hafen vor lauter Touristen-Segelbooten, tranken Bier aus großen Gläsern und diskutierten, ob wir noch die Fähre zur griechischen Insel Rhodos nehmen sollten – das dauert 90 Minuten und erschien mir, die noch nie in Griechenland war, wie ein netter Kurztrip. Als wir kurz darauf zurück nach Deutschland kamen, waren die Zeitungen voll mit den Meldungen, dass vor der Insel Rhodos ein Flüchtlingsboot mit 90 Menschen an Bord zerschellt ist. Das Boot war kurz nach unserer Abreise in Fethiye gestartet. Ein griechischer Fischers war zu sehen, der einen kleinen Jungen mit roter Wollmütze an Land trägt. Der Junge war tot, seine Mutter war bei dem Versuch, ihn zu retten, ebenfalls ertrunken. Was hätte ich wohl gemacht, wären die jetzt neben unserer Fähre mit ihrem kleinen maroden Boot gefahren? Hätte ich ihnen geholfen? Mit ihnen gesprochen? Wäre ich ins Wasser gesprungen um den kleinen Jungen da rauszuziehen? Oder wäre ich einer dieser bräsigen Touristen gewesen, die daneben stehen und sich das Spektakel anschauen, um danach in ihr Luxushotel zurückzugehen und vielleicht 50 Euro an Unicef zu spenden? Hätte es diese Meldung in der Zeitung nicht gegeben, wäre Fethiye für mich ein netter Touristenort geblieben. Jetzt weiß ich, dass andere Menschen an diesem Ort eine Reise beginnen, von der ihr Leben abhängt.
    Charlotte Haunhorst, Fethiye

    Bayernkaserne
    Ich arbeite zwei Stunden in der Woche im »Lighthouse Welcome Center«, auf dem Vorplatz der Bayernkaserne in München. Wir beantworten Fragen der Flüchtlinge und helfen mit Infos zu Ärzten, Freizeitangeboten und Fragen zum Asylverfahren. Im Frühjahr hat eine Gruppe junger Männer aus Eritrea mehrere Wochen vor der Kaserne gecampt. In ihrer Unterkunft außerhalb von München gab es Probleme, darum wollten sie nicht dorthin zurück. In die Kaserne durften sie aber auch nicht. Also blieben sie draußen, auf dem Grünstreifen, neben vier Spuren, auf denen Autos vorbeibrausen. Die Bayernkaserne ist kein schöner Ort, aber da draußen vor dem Tor ist sie besonders trostlos. An einem kalten Tag wollte ich ihnen Tee bringen. Da stand ich dann mit der großen Thermoskanne in der Hand im Nieselregen, vor mir die Männer im nassen Gras, dicht beieinander, die Köpfe in Kapuzen vergraben, die Körper in Schlafsäcken und Mulltüten. »Hey guys«, sagte ich, »do you want some tea?« Ich habe mich hingehockt und sie noch ein paar Mal angesprochen. Aber sie haben sich nicht gerührt. Tee rausbringen, das war sowieso schon die reine Hilflosigkeit. Und dastehen, vor den Männern, die keinen Ort hatten, an dem sie sein konnten, und die trotzdem irgendwie in den Schlaf gefunden hatten oder zumindest so taten, noch viel mehr.
    Aber manchmal gibt es auch schöne Momente: Ein Afghane, ein Syrer und eine Eritreerin kamen zusammen zu uns, um einen Kaffee zu trinken. Sie waren alle ungefähr gleich alt, Mitte zwanzig, und sprachen auf Englisch miteinander, gut gelaunt. Auf der Weltkarte, die wir am Lighthouse ausliegen haben, zeigten sie uns und sich gegenseitig ihre Fluchtrouten. Ein Mal Balkanroute, zwei Mal Mittelmeer. Drei Mal von unterschiedlichen Orten geflohen und drei Mal angekommen und jetzt mit den Köpfen über der Landkarte, mit dem Finger einen Weg nachzeichnend. »Bye« und »thank you« sagten sie dann und dass sie jetzt zusammen in die Stadt fahren würden. Wie Freunde das eben so machen.
    Nadja Schlüter, München


    Ein ehrenwertes Haus

    Ich bin Immobilienmaklerin. Warum ich ausgerechnet Milad für die Mietwohnung vorgeschlagen habe? Das kam ganz spontan. Zu dem Besichtigungstermin am Ortsrand von Pfaffenhofen waren ein gutes Dutzend Interessenten gekommen, darunter viele Besserverdiener mit 3000 Euro netto Jobs. Aber dann stand dieser junge afghanische Flüchtling vor mir. Milad hat mich offen angeschaut. Und dann beeindruckte mich seine höfliche Art, zu fragen. Ich wollte mehr über ihn wissen. Die Wochen zuvor hatten mich die Fernsehberichte über untergegangene Flüchtlingsboote mit hunderten von Toten schockiert. Als ich hörte, dass Milad alleine, zu Fuß und mit dem Boot nach Europa gekommen war und nun nach fünf Jahren in Deutschland erfolgreich seine Gesellenprüfung als Mechatroniker bestanden hatte, musste ich mit den Tränen kämpfen. Warum soll so jemand nicht auch mal für seine Anstrengungen belohnt werden? Warum sollen Flüchtlinge bei den Wohnungen immer als Letzte zum Zug kommen? Asylbewerber müssen ja oft gegen unglaubliche Vorurteile antreten – bei einem anderen Zwei-Parteien-Haus hatte ich das Obergeschoss an Flüchlinge vermietet, unglaublich freundliche und dankbare Menschen. Und dann war es plötzlich ganz schwer, einen Mieter für das andere Geschoss zu finden.
    Milad aus Afghanistan sollte ich dann noch zwei Mal wieder sehen. Er holte ein paar gebrauchte Möbel von mir ab. Und lud mich dann mit seiner Mutter in die neue Wohnung zum Essen ein. Ich gab zuerst nicht viel darauf. Immer wieder sprechen Kunden solche Einladungen aus – ohne dass sie Folgen haben. Doch dann saß ich eines Sonntags mit Milad und seiner Mutter vor zwei dampfenden Schüsseln mit afghanischen Reisgerichten. Am Ende habe ich noch einen ganzen Topf davon mit nach Hause genommen.
    Katarina Passberger, Pfaffenhofen  (protokolliert von Jonathan Fischer)

    Armutsvergleich
    Meine Schwester arbeitet als Krankenschwester in einer Kölner Flüchtlingsunterkunft. Einmal hat sie einen Flüchtling zum Impfen begleitet. Plötzlich wurde er ganz ernst, als sie an Obdachlosen vorbei gingen und meinte: »Ich verstehe das nicht, warum lebt der Mann auf der Straße, in Deutschland gibt es doch Unterstützung? Uns helft ihr, aber viele Menschen, die in Deutschland leben, sind arm. Vielleicht solltet ihr euch helfen, bevor ihr uns helft.«
    Katrin Langhans, Köln

    Bürokratie
    Ich lief neulich mal nachmittags durch Berlin. Aus einem Hauseingang sagte jemand »Can you help me?« Da war ein arabisch aussehender Mann in meinem Alter. Ich dachte, etwas zynisch: »Naja, ich weiß nicht, ob ich dir helfen will.« Dachte eben, der macht mich an. War immer noch skeptisch, als er mich bat, mit ihm ins Caritas-Büro in den Hinterhof zu kommen. Dort, dann: seine sehr junge, sehr schwangere Frau. Sein vierjähriger Junge. Und eine Caritas-Mitarbeiterin, die kein Englisch konnte. Es stellte sich heraus, dass es syrische Flüchtlinge waren, die nicht gewusst hatten, dass sie einen Übersetzer hätten mitbringen müssen. Also stellte der Mann sich auf die Straße und sprach jeden an, der vorbeiging. Während wir darauf warteten, dass wir drankamen, fragte ich den Mann nach seiner Geschichte. Er erzählte von der Mutter, die vor seinen Augen auf der Straße verblutet war. Dem Sohn, der durch eine Bombe verletzt worden war, so dass er immer wieder operiert werden musste und nicht schlafen konnte. Das Kind spielte mit seiner Mutter. Es hörte offensichtlich schlecht. Der Termin dauerte eine Stunde, aber ich war sehr froh, da zu sein und zu warten, dass die Caritas-Frau ihnen sagte, wo sie Anträge auf Geld für Kinderkleidung stellen konnten. Ich war beeindruckt von der akribischen Ordnung in den Unterlagen des Mannes – es waren sehr, sehr viele – und bestürzt, dass das alles in schwierigem Bürokratendeutsch war. Ich war wütend, als ich las, dass er 400 Euro Schulden bei einer deutschen Anwaltskanzlei hatte, weil er sich einen Film im Internet runtergeladen hatte. Nach Mitteilen seiner Situation hatten die Anwälte ihm gnädigerweise erlaubt, das Geld über zwei Jahre abzustottern. Und natürlich war ich beschämt, wie sehr sie sich bei mir bedankten, immer wieder.
    Theresa Bäuerlein, Berlin

    Wie eine Breze gegen Heimweh hilft

    Leibspeise
    Seit knapp vier Wochen lebt Adib Ismail, fast sieben Jahre alt, in meinem kleinen Heimatort in Oberbayern. Der kleine Syrer ist mit seinen Eltern in einem ehemaligen Hotel untergekommen, das die Besitzer nun zu einer Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert haben. An Tag 3 in der Provinz hat eine Nachbarin Adib eine Breze geschenkt. Seither erzählt er jedem, dass er gar nicht weiß, wie er so lange ohne Brezn leben konnte. Er spricht noch kein Deutsch – aber »Brezn« kann er jetzt. Mehl, Hefe, Salz, Malz und Wasser helfen offenbar auch gegen Heimweh.
    Laura Hertreiter, Amerang

    Deutscher Sommer
    Neulich am See bei 35 Grad im Schatten. Vor dem Wirtshaus am Steg parken wie immer die Schwergewichte aus München: ein dicker BMW, ein Mercedes und vor allem die dick bereiften Geländewagen. Eis ist heute ganz dringend angesagt, und das gibt es ein paar Meter vor dem Wirtshaus, beim kleinen Ladenkiosk. Davor stehen drei Tische, ein Pärchen um die vierzig sitzt, trinkt Kaffee und beobachtet die Passanten. Ich bin mit meinem Sohn und zwei afrikanischen Flüchtlingsjungs unterwegs, die ich in meiner Freizeit betreue. Wieder vorbei an den beiden, nach ein paar Metern, schon fast außer Hörweite, zischt es: »Das sind die, die uns bald alles wegnehmen.« Aha. Interessant. Was die wohl meinen? Ich dreh mich um, gehe zurück und sage: »Hörense mal, die Jungs nehmen Ihnen nichts weg, die wollen einfach Eis essen, schwimmen, einen guten Sommertag haben. Ferien, wissen Sie? Kein Deutschkurs, weil sie die Prüfung schon bestanden haben und die Schule zu hat. Aber schön, dass Sie sich für die beiden interessieren. Die kommen aus Gambia – ach, Sie wissen gar nicht, wo das ist? Die waren viele Monate unterwegs, sind durch sechs Länder gelaufen, gefahren und am Ende beinahe ertrunken. Sie kommen aus einem Land, das von einem Diktator regiert wird, wo sie als Jugendlicher jederzeit in den Knast kommen können, wo sie keine Ausbildung machen und keinen Beruf erlernen können. Da gibt es keine Kinderrechtskonvention und keinen Aldi, da gibt es nur Armut. Hätten Sie den Mut gehabt, für diese lange und beschwerliche Reise in ein neues Leben? Oder in den Tod? Nein, ach so.« Das habe ich gesagt. Aber nur in Gedanken. Leider.
    Julia Cortis, München

    Allein
    Ungefähr zum dritten Mal in den vergangenen drei Jahren machen wir an Pfingsten den Urlaub mit der ganzen Familie. Vater, Mutter und vier inzwischen erwachsene Kinder. Venedig-Biennale, Campen am Lido, mit dem Boot zum Marcusplatz, mitten hinein in den Touristenrummel. »Guck mal«, sagt mein Mann. Ein schwarzer Mann im dunkelblauen Anzug, vor dem weißen Venedig-Hintergrund, ganz ruhig sitzt er auf einem Poller am Hafen, seine Schultern sind ein wenig nach vorne gefallen, sein Blick geht nach innen. So verloren sieht er aus vor dem blauen Meer und der weißen Venedig-Silhouette, so versunken, dass ich nicht anders kann. Ich nehme mein Handy und fotografiere, erst schüchtern, dann gehe ich auf ihn zu. Er richtet sich auf und lacht. »Merci beaucoup!«, sagt er. Da entschuldige ich mich, weil ich einfach geknipst habe, aber er freut sich richtig, dass wir miteinander sprechen. Ob das meine Familie sei, fragt er auf Französisch, der nächste Halbsatz in Englisch: »all your kids?« Was wir in Venedig machen und ob es uns hier gefällt. »You look so lucky!« Als ich ihn nach seiner Familie frage, erzählt er mir, dass er aus Togo komme, elf Schwestern und zehn Brüder, der Vater sei tot. Als Ältester muss er für die Familie sorgen, seit fünf Jahren ist er unterwegs. In der Wüste hat er für eine libysche Elektrizitätsgesellschaft gearbeitet, bis Gadaffis Ex-Soldaten ihm die Rastas abschnitten, ihn folterten und ins Gefängnis steckten. Irgendwann im vergangenen Jahr, habe man dann ihn mit den Worten, »damit Europa schwarz wird« ins Boot gesetzt. Ich muss lachen, obwohl es so traurig ist. Nichts gegen ein buntes Europa, schwarz gehört dazu. »Das sagst du so einfach«, sagt er, »weil du eine glückliche Familie hast. Aber, ich will nicht in Venedig leben. Die Menschen, die vom Meer kommen, werden hier nicht gern gesehen. Und ich will Europa auch nicht schwarz machen, ich wäre lieber bei meinen Geschwistern in Afrika. Sie brauchen etwas zu essen, deshalb arbeite ich hier als Wachmann. Aber hier bin ich nur ich.«

    Marianne Moesle, 55, Tübingen

    Universalsprache
    »Hallo.« Der Mann aus Afghanistan lächelt. Sein kleiner Sohn läuft vor ihm über den Rasen und tritt gegen einen Ball. »Hallo«, sage ich zum Vater. Haben er, seine Frau und der Kleine die erste Nacht in der Schulturnhalle gut geschlafen? Gefällt es der kleinen Familie hier in Chieming am Chiemsee? Das möchte ich alles wissen. Der Mann lächelt immer noch, legt seine rechte Hand auf seine Brust und sagt: »Farsi«. Die Sprache verstehe ich nicht. Und er beherrscht keine andere. So stehen wir auf dem Sportplatz von Chieming und lächeln uns einige Augenblicke an. Bis der kleine Sohn den Ball zu mir spielt. Von da an braucht es keine Worte mehr.

    Oliver Das Gupta, Chieming


    Begegnung im Wald
    Aus der Ferne hätte man sie für eine Gruppe Wanderer halten können. Bloß, dass sie keine Trekkingrucksäcke tragen, sondern Plastiktüten. Und das winzige Bündel, das der Mann da an seine Brust presst, das könnte man fast für eine Picknickdecke halten. Es ist ein Baby, wenige Wochen alt. Die Menschen kommen aus dem Irak, aus Syrien und Pakistan. Schlepper brachten sie im Kastenwagen über die Grenze, nun irren sie am Rand der Landstraße entlang, ausgesetzt irgendwo in Niederbayern. Autos zischen an ihnen vorbei. Das Paar mit dem Baby biegt auf einen Feldweg ab, steuert auf einen Einödhof zu, in der Hoffnung, dass dort Menschen helfen. Zwei junge Männer winken einen Radfahrer zu sich und fragen in gebrochenem Deutsch: »Hamburg? München? Hannover?« Am nächsten Tag steht in der Zeitung: »57 Flüchtlinge im Landkreis Straubing-Bogen aufgegriffen.« 
    Karin Janker, Straubing




    West-östlicher Diwan

    Sie gestikulieren, reden und reden. Es dauert, bis ich das Wort »Diwan« verstehe, als Arian und Christian, Onkel und Neffe aus Albanien, die mit ihren Familien ein paar Tage vorher in unserem Viertel einquartiert wurden, an meine Ateliertür klopfen. Ich verstehe, dass sie eine Schubkarre brauchen, um ein Sofa zu transportieren. Ich biete an, meinem VW-Bus zu holen, aber sie wollen erst nicht., »nix money«, sagen sie. »Nix money«, sag ich auch, aber es dauert wieder eine Weile, bis wir uns verstehen. Auf dem Weg zum Diwan zeigt Arian mit den Fingern, ob mein Auto vier oder sechs Zylinder habe, aber ich zucke mit den Schultern, ich glaub, das ist uns beiden peinlich. Auf der Straße steht kein Diwan, sondern eine ganze Diwan-Landschaft, ziemlich scheußlich. Aber als wir die Teile ins Auto einladen wollen, steigen plötzlich zwei Serben mit in den Bus, irgendwie scheinen sie auch Rechte an diesem Sperrmüll zu haben. 
Es kommt zum Streit, wegen eines Sofas, das unsereins wegwirft, aber für die Flüchtlinge es wie ein mittlerer Lottogewinn. Ich hätte gern etwas getan, was weiß ich, natürlich Partei ergriffen für »meine Albaner«, aber ich verstehe kein Wort. Muss hilflos zugucken, wie die Serben wieder ausladen und die Sofateile eigentlich ganz fantasievoll auf zwei Einkaufswagen abtransportieren. Das tut mir so leid, Arian und Christian sind so deprimiert. Am nächsten Tag kommen sie wieder vorbei und wollen für meine angebotene Hilfe mein Auto putzen.
    Frido Hohberger, Tübingen (protokolliert von Marianne Moesle)

    Fotos: plainpicture (7) / Yves Beaulieu, Woods Wheatcroft, Janklein, Sara Foerster, Lobo, Peter Marlow, Gustav Almestål; Marianne Moesle; Getty Images/ Linda Steward