Die Gewissensfrage

»Neulich kam ich mit einem Freund auf meinen bevorstehenden 30. Geburtstag zu sprechen. Ich fragte ihn um seine Meinung, wie ich feiern solle. Er sagte, ich sei egozentrisch, wenn ich Freunde herbeihole, um mich feiern zu lassen - nach dem Motto: Kommt her, und feiert mich! Kann ich meine Freunde bedenkenlos zu meinem Geburtstag einladen? Schließlich gehe ich selber auch gern auf ihre Feste.« Jochen G., Fulda

Die Menschheit scheint in zwei Lager zu zerfallen: diejenigen, die sich gern feiern lassen, und diejenigen, denen das nicht geheuer ist. Offenbar gehören Sie der einen Gruppe an, Ihr Freund der anderen. Was das über Ihrer beider Psyche aussagt, sei dahingestellt.

Generell ist der Brauch, sich am Geburtstag zu feiern, jüngerer Natur. Der Kirchenlehrer Origenes wies darauf hin, dass in der ganzen Bibel nur die Gottesfeinde Herodes und der Pharao ihren Geburtstag begehen. In Süddeutschland und Österreich feierte man früher - und teils auch noch heute - eher den Namenstag als Tag des eigenen Schutzheiligen. Das käme vielleicht der Intention Ihres Freundes entgegen, man solle sich selbst nicht so in den Mittelpunkt stellen. Sie, der Sie sich offenbar gern feiern lassen, sollten beachten, dass es mancherorts üblich war, das Geburtstagskind zu drosseln oder zu würgen - glücklicherweise wohl nur im Scherz. Aus Mittelschlesien berichtet man den Brauch, das Geburtstagskind tüchtig zu verprügeln, »damit das Fleisch im Grabe besser faule«. In dieser Gegend würde ich im Eigeninteresse den Kreis der Eingeladenen eher klein halten. Für hier von Interesse halte ich dagegen den gelegentlich beobachteten Brauch, dass der Beglückwünschte Gegengeschenke verteilt. So kann man eine Geburtstagseinladung nämlich auch auffassen: als Geschenk des Gefeierten an die Freunde. Wie soll man das nun bewerten?

Einerseits die kaum zu leugnende Ichzentrierung des Sich-feiern-Lassens, andererseits die fast schon altruistischen Mühen, eine Feier auszurichten. Wenn man Moral nicht an Überwinden und Kasteiung knüpft, sehe ich nicht, warum das einen Widerspruch darstellen sollte. Solange Sie von den Eingeladenen nicht verlangen, Sie zur Feier des Tages auf einem Thron durch den Saal zu tragen, oder ähnliche Auswüchse von Eitelkeit zeigen, spricht aus meiner Sicht wenig gegen ein Fest.

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Weiterführende Literatur:

Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (10 Bände). Hrsg. v. Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller, Berlin / New York, Walter de Gruyter, 1987.
Unveränderter photomechanischer Nachdruck der
Originalausgabe (Handwörterbuch zur deutschen Volkskunde, herausgegeben vom Verband deutscher Vereine zur deutschen Volkskunde, Abteilung I, Aberglaube) erschienen 1927 bis 1942 bei Walter de Gruyter & Co, vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trüber - Veit & Comp., Berlin und Leipzig.

Illustration: Marc Herold