Die Gewissensfrage

Darf ich bedürftigen Menschen kaum benutzte Babyfläschchen überlassen, wenn diese vielleicht mit einem schädlichen Kunststoff verunreinigt sind?

»Ich habe gelesen, dass der Kunststoffbestandteil Bisphenol A schädlich sein könnte, besonders für kleine Kinder. Tatsächlich habe ich in unserer Küche einige Behälter – darunter kaum benutzte Babyfläschchen – gefunden, die den Stoff enthalten, und für mich beschlossen, sie nicht mehr zu benutzen. Aber soll ich sie nun wegwerfen, weil sie gefährlich sein könnten, oder in einen karitativen Secondhandshop geben, damit Bedürftige – die vielleicht nicht an die Gefährlichkeit des Stoffes glauben – sie benützen können?« Lothar R., Lindau

Die erste Überlegung dreht sich darum, wie gefährlich der Stoff wirklich ist. Tatsächlich gehen die Meinungen auseinander, auch wenn es gewichtige Stimmen gibt, die davon abraten, solche Gefäße zu verwenden – ganz besonders für Kinder. Wie geht man mit dieser Unsicherheit um? Es spricht schon viel dafür, in Fällen einer Gefährdung eher auf Warnungen denn auf Beschwichtigungen zu hören. Vor allem würde ich, da es um Ihr persönliches Handeln geht, dazu raten, auf Ihre innere Stimme zu hören: Wenn Sie für sich zu der Entscheidung gelangt sind, dass diese Materialien schädlich sind, sollten Sie Ihr Handeln danach ausrichten. Damit kommt man zur zweiten Überlegung: Es ist ein Widerspruch, wenn Sie die Gefäße wegwerfen und nicht in den karitativen Secondhandshop bringen, wo Menschen, die nicht so viel Geld haben, sie abholen könnten, während daneben im Haushaltswarenladen dieselben Gefäße regulär in den Regalen stehen und gekauft werden. Andererseits ist es aber auch ein Widerspruch, wenn Sie die belasteten Kunststoffteile zwar als zu gefährlich erachten, um sie selbst zu benutzen, aber noch gut genug dafür, sie anderen, weniger Begüterten zukommen zu lassen.

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Die beiden Widersprüche unterscheiden sich jedoch in mehrfacher Hinsicht. Der erste Widerspruch, funktionsfähige Dinge wegzuwerfen, obwohl sie normal im Handel erhältlich sind, betrifft den wirtschaftlich-ökologischen Bereich. Er entsteht, weil verschiedene Personen unterschiedlich handeln: Sie meiden die Behälter, andere nicht. Wenn Sie die Behälter aber nicht wegwerfen, ziehen Sie unterschiedliche Konsequenzen aus der Gefahr für sich und andere. Damit teilen Sie Menschen in Gefährdungsklassen ein, ein Widerspruch gegen das Prinzip der Gleichwertigkeit von Menschen. Zudem entsteht dieser Widerspruch nicht durch das Handeln verschiedener Personen, sondern innerhalb des Handelns einer, nämlich Ihrer Person.

Nach diesen Überlegungen fällt die moralische Einordnung leichter: Da es um Ihr Handeln geht, hielte ich es für falsch, sich darauf zu berufen, dass die anderen selbst wissen müssen, was gut für sie ist. Ein Widerspruch im wirtschaftlich-ökologischen Bereich scheint mir tolerabler als einer bei der Bewertung von Menschen. Und die Widerspruchsfreiheit des eigenen Denkens und Handelns ist wichtig, weil sie die Integrität der Person betrifft. Das alles spricht unterm Strich dafür, die aussortierten Gefäße dann auch zu entsorgen.

Literatur zu diesem Thema

Umweltbundesamt (Hrsg.), BISPHENOL A - Massenchemikalie mit unerwünschten Nebenwirkungen, Aktualisierte Fassung Juli 2010; im Internet hier abrufbar.

Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) (Hrsg.), Hormone in der Babyflasche. Bisphenol A: Beispiel einer verfehlten Chemikalienpolitik. Sind Kunststoffbestandteile Ursache vieler Zivilisationskrankheiten?; im Internet hier abrufbar.

Umweltbundesamt (Hrsg.), telegramm umwelt + gesundheit – Informationen des Umweltbundesamtes. Ausgabe 01/2011: Neue Weichmacher in Kunststoffen; im Internet hier abrufbar.

Zur Bewertung von Unsicherheiten bei Gefahren siehe:

Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Insel Verlag, Frankfurt/Main, 1985, S.67: „Wenn im Zweifel, gib der schlimmeren Prognose vor der besseren Gehör, denn die Einsätze sind zu groß geworden für das Spiel.“

Zur Integrität der Person siehe:

Bernard Williams, Kritik des Utilitarismus, Klostermann, Frankfurt/Main, 1979

Illustration: Marc Herold