Hurra! Ach nee, doch nicht.

Meine Freundin lässt jede Verabredung in letzter Minute platzen, ich will sie aber nicht verlieren – was tun? Die Gewissensfrage.


»Eine Freundin sagt häufig Verabredungen in letzter Minute ab - weil sich kurzfristig etwas ›Besseres‹ aufgetan hat, sie keine Lust hat oder müde ist. Sie macht das bei allen, auch wenn andere ihretwegen Termine verschoben haben. Ich finde es rücksichtslos, sie meint, ich übertreibe. Andererseits schätze ich sie, ihre Herzlichkeit und ihren Humor. Was tun?« Anna F., München

Da es sich um ein Problem der Freundschaft handelt, liegt es nahe, bei Aristoteles nachzuschlagen und seiner Erklärung, dass man eine Freundschaft beenden soll, wenn sich bei einem Freund Eigenschaften entwickeln oder zeigen, die mit einer Freundschaft nicht vereinbar sind. Damit wäre Ihr Problem einfach und vor allem gründlich gelöst.

Nur trifft das die Ausgangslage bei Ihnen nicht. Sie schreiben ja ausdrücklich, dass Sie mit Ihrer Freundin trotz allem befreundet sein wollen. Die Unzuverlässigkeit ist für Sie ärgerlich, aber offenbar nicht entscheidend. Das muss es auch nicht sein, denn meines Erachtens liegt dem Ganzen lediglich ein Definitionsdissens zugrunde, und wenn Sie den auflösen, klärt sich der Rest. Offenbar versteht Ihre Freundin unter einer Verabredung etwas anderes als Sie, nämlich eine mehr oder weniger unverbindliche Absichtserklärung. Da Ihre Freundin offenbar nicht bereit ist, das zu ändern, können Sie sich nur auf die Definition Ihrer Freundin einlassen und die geplanten Termine gleichermaßen als Absichtserklärung auffassen. Das heißt, Sie verschieben nichts, organisieren nicht aufwendig und behalten sich vor, ebenfalls abzusagen, wenn es Ihnen nicht passt oder sich etwas anderes ergibt. Und Sie kommunizieren das offen.

Meistgelesen diese Woche:

Das ist auch keine Retourkutsche, sondern umgekehrt eine positive freundschaftserhaltende Maßnahme. Es wird sicherlich die Häufigkeit der gemeinsamen Treffen reduzieren, aber wenn es Ihnen zu wenig wird, können Sie beide reagieren: Ihre Freundin, indem sie erklärtermaßen verbindlicher wird. Und Sie, indem Sie sich klarmachen, wie viel mögliche Enttäuschung es Ihnen wert ist, die Freundin weiter zu treffen, und das dann akzeptieren. So nehmen Sie sich, passend für eine Freundschaft, beide so, wie Sie jeweils sind.

Literatur:

Zur Freundschaft nach wie vor unerreicht sind die Ausführungen von Aristoteles im VIII. und IX. Buch seiner Nikomachischen Ethik. Gute Übersetzungen gibt es von Olof Gigon bei dtv, München 1991 und von Ursula Wolff bei rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006

Die Überlegungen zur Beendigung der Freundschaft, weil sich der Freund verändert hat, findet man bei Aristoteles im IX. Buch seiner Nikomachischen Ethik:

3. Man kann auch zweifeln, ob man die Beziehungen zu (1165b) solchen Freunden, die nicht die Alten bleiben, abbrechen darf und soll, oder nicht. Es scheint jedoch der Abbruch der auf dem Nutzen oder der Annehmlichkeit beruhenden freundschaftlichen Beziehungen, wenn diese Voraussetzung nicht mehr vorhanden ist, keinem Bedenken zu unterliegen. Man war ja nur Freund dieser Annehmlichkeit oder dieses Nutzens, und es ist natürlich, wenn mit ihrem Wegfall auch die Liebe aufhört. Wohl aber dürfte man sich beklagen, wenn jemand, der des Nutzens oder der Annehmlichkeit wegen Freundschaft hielt, sich stellte, als täte er dies wegen unseres Charakters. Denn die meisten Mißhelligkeiten unter Freunden kommen, wie wir eingangs bemerkt haben, daher, daß die Freundschaft in Wahrheit eine andere ist, als man meint [Fußnote]. Wenn nun jemand hier sich selbst getäuscht und angenommen hat, er werde wegen seines Charakters geliebt, da doch der andere nichts dergleichen tat, so mag er die Schuld daran sich selbst zuschreiben; ist er aber durch die Verstellung des anderen getäuscht worden, so kann er demselben mit Recht deshalb Vorwürfe machen, und das weit mehr als einem Falschmünzer, da die Sache, die hier von dem Betrug getroffen wird, weit höher an Wert steht.

Wenn man aber jemanden als einem ehrenhaften Charakter seine Freundschaft geschenkt hat, und derselbe dann schlecht wird und sich auch als schlecht zeigt, muß man ihm da die Freundschaft und Liebe bewahren? Oder ist das nicht möglich, wenn doch nicht alles liebenswert ist, sondern allein das Gute? Aber man hat nicht blos keine Verpflichtung, einen schlechten Mann wie einen Freund zu lieben, man darf es auch nicht. Denn man darf kein Freund des Bösen sein und sich dem Schlechten nicht gleich machen; das täte man aber bei der Fortsetzung der Freundschaft; denn, wie schon gesagt, gleich und gleich gesellt sich gern [Fußnote]. Soll man aber nun in einem solchen Falle die Freundschaft sofort auflösen? Oder ist es nicht vielmehr so, daß sich das nicht immer und überall empfiehlt, sondern nur solchen Personen gegenüber, die keine Aussicht auf Besserung bieten. Dagegen ist es eine weit höhere Pflicht, denjenigen, die noch einer Besserung fähig sind, dazu behilflich zu sein, als dem Freunde materiellen Beistand zu leisten, da das sittliche Moment höheren Wert hat und enger mit der Freundschaft zusammenhängt. Wer aber die Freundschaft auflöst, tut nichts verkehrtes. Denn die bisherige Neigung galt einem solchen Menschen nicht. Da er also ein anderer geworden ist, und man ihm nicht wieder aufhelfen kann, so scheidet man von ihm.

Wenn aber der eine Freund der alte bliebe, der andere aber tugendhafter würde und hierin den ersten um vieles überträfe, könnte er ihn da noch fort und fort als seinen Freund behandeln? Daß das unmöglich wäre, sieht man am besten bei großem Abstände beider Teile, wie er z. B. bei Freundschaften aus der Knabenzeit sich herausbilden kann. Bliebe der eine geistig ein Kind, und der andere würde einer der besten Männer seiner Zeit, wie könnten sie da Freunde bleiben, da sie nicht denselben Geschmack hätten, und das, was ihnen Lust oder Unlust erweckte, nicht das Gleiche wäre? Auch an einander würde ihnen nicht das Gleiche gefallen oder mißfallen, und ohne das erschien uns eine Freundschaft als unmöglich, da kein Zusammenleben mehr sein könnte. Wir haben uns darüber schon ausgesprochen.

Muß man sich nun in diesem Falle zu dem ehemaligen Freunde etwa gar nicht anders stellen, als wenn er niemals unser Freund gewesen wäre? Gewiß nicht! Einer alten Vertrautheit darf man nicht vergessen, und wie man glaubt, gegen Freunde gefälliger sein zu müssen als gegen Fremde, so muß man auch gewesenen Freunden um der früheren Freundschaft willen etwas zugestehen, wenn nicht die Trennung wegen gar zu großer Schlechtigkeit erfolgt ist.

In der Übersetzung von Eugen Rolfes (ursprünglich Felix Meiner Verlag, Leipzig 1911)
Online nachzulesen bei Projekt Gutenberg.

Illustration: Serge Bloch