Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen? Einen Baum, eine Wiese, ein Blumenbeet, eine Hecke? Wenn Sie nicht mitten in der Großstadt wohnen, ist die Chance relativ groß, dass Sie ins Grüne blicken. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, was Ihnen diese Natur wert wäre? Wie ließe sich der Wert überhaupt ermitteln? Um beim Baum zu bleiben: Wäre es nur der Holzpreis, oder müste man auch den Erholungswert, die Luftreinigungsfunktion und die Nahrung, die er Tieren liefert, in die Berechnung einbeziehen? Und könnte man eine ähnliche Berechnung auch für die Hecke, die Wiese und das Blumenbeet aufstellen? Oder für die Biene, die im Frühjahr von Blume zu Blume fliegt? Manchen Berechnungen zufolge liegt der volkswirtschaftliche Nutzen, den die Bienen mit der Bestäubung erbringen, allein in Deutschland bei 3,8 Milliarden Euro pro Jahr; auf die ganze Welt hochgerechnet ergibt sich pro Jahr ein Wert von einer Billion Euro.
Normalerweise berechnen wir diese Leistungen der Natur allerdings nicht. Wir halten sie für selbstverständlich. Genau da kommt die Arbeit von Gretchen Daily ins Spiel. Es geht ihr darum, dass wir einen Blick für den Wert der Natur bekommen – und diesen bei allen Entscheidungen einbeziehen, ob politisch, wirtschaftlich, städtebaulich oder privat. Zum Beispiel: Wieviel Wald braucht man, um sauberes Trinkwasser und Flutschutz für eine nahe liegende Stadt zu gewährleisten? Oder: Wo soll eine Stadt neue Grünbereiche schaffen, um im Sommer für Kühlung zu sorgen und Sport und mentale Gesundheit zu fördern?
Ihren Namen kennen in Deutschland nur wenige, dabei hat Gretchen Daily erreicht, dass 185 Länder, darunter China, ihr Schutzkonzept, ihre Forschungsergebnisse und ihre Software in die staatliche Umweltpolitik integriert haben. Grundlage dafür ist das »Natural Capital Project«, das die Stanford-Biologin und Professorin für Umweltwissenschaften im Jahr 2005 mitgegründet hat. Auf die Idee, dass die Natur einen Wert hat, waren zuvor auch schon andere gekommen, beim »Natural Capital Project« handelt es sich um den bahnbrechenden Versuch, die Berechnung dieses Wertes aufgrund von wissenschaftlicher Forschung zu systematisieren und vergleichbar zu machen. Dadurch können nicht nur staatliche Stellen, sondern auch Firmen und Privatpersonen bis hin zum einzelnen Landwirt geplante Maßnahmen in Bezug auf ihre Umweltverträglichkeit durchrechnen. Der renommierte Biologe Paul Ehrlich, Gretchen Dailys Mentor, nannte sie ein Genie und die wichtigste Umweltwissenschaftlerin der Gegenwart.
Sie sind bekannt geworden als Mitgründerin des »Natural Capital Projects«. Was genau meinen Sie mit Naturkapital?
Gretchen Daily: Alles Land auf der Welt, alle Gewässer, alles Leben, alle Ökosysteme, die ganze Biosphäre.
Das klingt immens. Wie messen Sie den Wert der Natur?
Lange wurde Natur als gegeben betrachtet und ihr Wert mit Null berechnet. Letztendlich ist ihr Wert unendlich – wir können nicht ohne die Natur leben. Aber beides macht für Entscheidungen wenig Sinn: Man kann weder mit null noch mit unendlich rechnen. Natur gibt uns all diese Dinge, die wir als gegeben betrachten. Wir haben immer gehandelt, als stünden uns diese Leistungen bis in alle Ewigkeit zur Verfügung. Wir haben unsere Lebensräume bis über die Grenzen hinaus ausgebeutet. Mir geht es darum, zu zeigen, dass das Wohlergehen der Menschen vom Wohlergehen der Ökosysteme abhängt, etwa den Wäldern, den Mooren und den Korallenriffen. Die enormen wissenschaftlichen Fortschritte in den letzten Jahrzehnten machen es jetzt möglich, dass wir anfangen können zu quantifizieren, wo, wieviel und wem Natur nützt – ob in Städten, ländlichen Landstrichen oder noch unberührten Landschaften.
Was heißt das in der Praxis?
Unsere Teams verbringen viele Monate oder Jahre, manchmal Jahrzehnte, damit, mit Menschen vor Ort zu arbeiten, die es schwierig finden, Umweltprobleme zu lösen. Wir bringen Experten, Softwareprogrammierer und Forscher mit NGOs und lokalen Gruppen zusammen, um zunächst akkurate Daten zu den regionalen Problemen zu sammeln. Dann spielen wir verschiedene Szenarien durch, um Entscheidungen besser, grüner, billiger und klüger zu machen.
Um es mit Ihren Kritikern wie dem Umweltautor George Monbiot zu sagen: Müssen wir jetzt wirklich auch noch der Natur einen Preisstempel aufdrücken?
Gut, dass Sie das gleich zu Beginn ansprechen. Das Konzept ist viel tiefgründiger, als es klingt. Beim Wort Kapital denke manche an die brutalste Form des Kapitalismus. Wir benutzen diese Terminologie bewusst, weil wir die wichtigsten Motoren hinter der Zerstörung konfrontieren wollen, und die sind ökonomische. Bei fast allen Entscheidungen, sei es von Regierungen, Firmen, Familien oder Teenagern, spielen ökonomische Kriterien eine wichtige Rolle.
Wie hat man sich die Arbeit des Natural Capital Projekt (NatCap) genau vorzustellen?
Es ist eine globale Partnerschaft, die neue Wege ebnet, den Wert der Natur zu erfassen und in die Entscheidungsfindung zu integrieren. Dazu gehören Innovationen in den Wissenschaften, Finanzen, Planung und Politik in vielen Sektoren. Ein großer Bestandteil unserer Arbeit besteht darin, neue Technologie voranzubringen und Innovationen umsetzbar und zugänglich zu machen. Als Stanford-Professorin sitze ich in einem Elfenbeinturm, und normalerweise wird wenig von unserer Forschung in der Praxis umgesetzt. Bei Ingenieuren ist es schon lange gang und gäbe, wissenschaftliche Erkenntnisse umzusetzen, aber in unserem Bereich passiert das zu wenig. Wir haben das Projekt 2005 gegründet, aber erst in den letzten zehn Jahren ist eine echte Gemeinschaft, eine Massenbewegung enstanden, Naturkapital bei Investitionen miteinzubeziehen.
Von der UN bis zur EU, von China bis zum deutschen Umweltbundesamt haben Politiker Forscher beauftragt, die Leistungen der Natur zu berechnen. Das Millennium Ecosystem Assessment der UN kam zu dem Schluss, rund 60 Prozent der wichtigsten Ökosystemdienstleistungen würden entweder nicht nachhaltig genutzt oder seien bereits geschädigt, zum Beispiel sauberes Trinkwasser. Sie haben eine kostenlose Software entwickelt, die ökologische Entwicklungen dokumentiert.
Wir arbeiten zum Beispiel daran, Satelliten und Drohnenbilder hochauflösbar zu machen und unsere Datenbank ist mit Open Source für alle zugänglich. So können Nutzer ökologische Werte identifizieren und sehen, wie das Land und die Wasserresourcen das Leben vor Ort beeinflussen. Die Daten werden in die Software gefüttert, die dann verschiedene Szenarien durchspielt.
Robert Costanza von der Universität London hat den globalen wirtschaftlichen Nutzen der Ökosystemdienstleistungen für das Jahr 2011 auf 125 bis 145 Billionen Dollar geschätzt und den Verlust von Ökosystemen in den Jahren zuvor auf 4,3 bis 20 Billionen pro Jahr.
Die Zahlen sind schwindelerregend. Seine Berechnung war vermutlich die Unterbewertung des Jahrhunderts, aber ich bin ihm dankbar, denn sie gibt uns zumindest einen Anhaltspunkt. Es ist unsere Generation, die diese Probleme geerbt hat, diese Art zu denken, und deshalb müssen wir jetzt die Kurve kriegen. Der Gedanke dahinter geht viel tiefer als alle Preisschilder, aber es ist ein Anfang, um zu sagen: Okay, wenn ich die Mangrovenwälder auf der Insel vernichte, kann ich mehr Ferienwohnungen bauen, aber wenn dann die Fischer nichts mehr zu fischen haben und die Hurrikane die Küsten zerstören, kommen auch die Touristen nicht mehr.
Mich interessiert am meisten, wie Sie dieses Konzept in der Praxis einsetzen. Sie arbeiten mit Hunderten von Regierungen, NGOs, Entwicklungsbanken und Firmen zusammen. Wer beauftragt Sie?
Wir haben mehr als 100 akademische Forschungspartner und mehr als 300 Partner in der Umsetzung weltweit. Unsere engsten Partner sind die Royal Swedish Academy of Sciences, das Stockholm Resilience Center, die Chinese Academy of Sciences und die University of Minnesota, dazu unzählige NGOS, wie der WWF, und die Entwicklungsbanken. Bei der Klimakonferenz COP im November haben die Entwicklungsbanken ihren Beschluss veröffentlicht, Naturkapital in ihre Entscheidungen auf allen Ebenen miteinzubeziehen. Sie verfügen über ein Volumen von 220 Milliarden Dollar pro Jahr, da steckt schon Macht dahinter.
»Costa Rica war mal führend in der Umweltzerstörung und hatte in den Neunzigerjahren die weltweit höchste Abholzungsrate von Regenwald. Dann haben sie das Ruder komplett herumgerissen«
Ein konkretes Beispiel?
Auf den Andros-Inseln in den Bahamas, deren Küsten vom Meeresanstieg bedroht sind, haben wir durchgespielt: Was, wenn die ganze Küste für den Tourismus erschlossen wird oder wenn gar keine Küstenbauten erlaubt werden? Touristenburgen beeinträchtigen die Wasserqualität, und die Wasserverschmutzung würde den Fisch- und Hummerfang beeinträchtigen. Touristen kommen auch für den frischen Hummer. Wenn wir die Hummer vertreiben, verlieren wir auch die Touristen. Die Partner wählten schließlich ein »nachhaltiges Wohlstandsmodell«, ein umweltfreundliches Konzept, das die Interessen der Inselbewohner in den Mittelpunkt stellt.
Das erste Land, das Ihr Konzept integrierte, war Costa Rica.
Ja, das ist unser Vorzeigeprojekt. Wahnsinn, ich kann kaum glauben, dass ich seit 30 Jahren in Costa Rica arbeite, seit 1991. Es ist mein Lieblingsland auf der ganzen Welt. Es war mal führend in der Umweltzerstörung und hatte in den Neunzigerjahren die weltweit höchste Abholzungsrate von Regenwald. Dann haben sie das Ruder komplett herumgerissen. Costa Rica hat als erstes Land 1996 ein nationales Bezahlsystem für Ökodienstleistungen eingeführt. Die Regierung hat verstanden, dass die Regenwälder essenziell für das Überleben des Landes sind. Sie sichern die steilen Berghänge in den tropischen Stürmen. Die Regierung investierte in Wasserkraft, die heute fast 90 Prozent der Energie erzeugt. Statt Leute vom Abholzen der Wälder profitieren zu lassen, werden die Waldbesitzer und Einheimischen für den nachhaltigen Schutz der Wälder und auch des Wassers bezahlt. Costa Rica hat viele kleine Bauern. Es war ganz wichtig, dass sie beteiligt werden und ihre Lebensgrundlage nicht verlieren. Dank der Reform haben die Leute heute viele verschiedene Einkommensströme, auch durch Zahlungen aus CO2-Offset-Programmen, weil die Wälder soviel Karbon speichern.
Ein weiteres Beispiel ist China – wo die Umweltzerstörung einerseits massiv ist, die Regierung andererseits aber sehr innovative Schutzprojekte fördert.
China und Costa Rica haben viel gemeinsam. Mitte der Neunzigerjahre hatte China massive Abholzung. Die vernichtenden Überschwemmungen in den späten Neunzigern haben das Land viele Menschenleben und mehr als 35 Milliarden Dollar gekostet, sehr konservativ gerechnet. Wie in Costa Rica hat die Regierung fast über Nacht eine Kehrtwende vollzogen, 120 Millionen Haushalte in das Aufforstungsprogramm integriert und riesige Flächen Ackerland renaturalisiert. Das macht sie bis heute; damit sind zig Millionen Menschen beschäftigt. Beide Länder haben enorme Erfolge gesehen, sowohl was den Schutz vor Umweltkatastrophen betrifft als auch die Zufriedenheit und den Wohlstand der betroffenen Menschen. Das war nicht einfach umzusetzen. Brasilien, zum Beispiel, hat auch ein Waldschutzgesetz, aber das ist bei weitem nicht genug.
Wie sind Sie als amerikanischen Professorin zur chinesischen Regierung durchgedrungen?
Durch die Chinese Academy of Sciences. Zhiyun Ouyang von der Academy verbrachte ein Jahr in den USA und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Lösung dieser Probleme. Zum Beispiel haben die Bauern in mehr als 150 Dörfern in der Provinz Hubei nahe Beijing den Reisanbau aufgegeben und sich für umweltverträglichere und ertragreichere Arten entschieden. Ein Win-Win: Die Bauern haben bessere Erträge, mehr Einkommen, besseres Wasser, und Beijing kann die Natur vor der Haustür wiederherstellen. Inzwischen haben wir so viele Erfolge, dass immer mehr Regierungen und Entscheidungsträgern klar wird, dass sie langfristig den Wert der Natur berücksichtigen müssen.
Sie haben dafür ein neues System entwickelt, das Brutto-Ökosystem-Produkt (Gross Ecosystem Product, GEP) neben dem gängigen Bruttosozialprodukt (BSP). Der UN-Generalsekretär António Guterres nannte es einen »historischen Schritt vorwärts, der verändert, wie wir Natur betrachten und wertschätzen.« Wie funktioniert das?
Wir haben es mit China entwickelt, und letztes Jahr hat die UN das GEP als Standard akzeptiert. Wir haben die Methoden des BSP mit dem Naturkapitalkonzept verbunden. Die Idee ist einfach: Das BSP wird bei zahlreichen Wirtschaftsentscheidungen herangezogen. Dabei ist das BSP komplett blind für den Wert der Natur. Nach massiven Umweltkatastrophen steigt das BSP oft an, weil soviel Kapital in den Wiederaufbau fließt. Wir können uns diesen Blindflug nicht mehr leisten. Manche sagen, dass Investitionen in die Natur die besten Investitionen sind. Unsere Software liefert dafür die Daten und die wissentschaftliche Basis.
Inzwischen sind Sie als Pionierin des Naturkapitals weltweit anerkannt. Welche Hindernisse begegneten Ihnen am Anfang?
Am Anfang fand ich es Furcht einflößend, all diese wichtigen Entscheidungsträger zu kontaktieren, als kleine Wissenschaftlerin, noch dazu als Frau. Ich bin eher schüchtern und hatte nicht viel Selbstvertrauen, um um Treffen mit wichtigen Politikern oder Finanzchefs zu bitten. Aber dann bekam ich meinen ersten großen Schub an Selbstvertrauen, als ich Kinder bekam. Es mag vielleicht seltsam klingen, aber das Magazin Nature hat mal eine Studie mit Ratten veröffentlicht. Isolierte Ratten trauten sich selten an das fette Stück Käse unter den grellen Scheinwerfern in der Mitte des Raums; das war ich. Schwangere Ratten liefen schnell zum Käse, rissen sich ein Stück ab und rannten wieder zurück. Aber die Mutter-Ratten mit Nachwuchs schlenderten zum Käse und fraßen sich voll. Seit ich zwei Kinder habe, werde ich immer mutiger. Wenn all diese großen Institutionen oder Banken jetzt um Treffen bitten, dann sehe ich, dass wir ein Stück weit angekommen sind. Das inspiriert mich. Wir alle haben mitgeholfen, die Natur zu zerstören. Wir können auch alle zusammen aufwachen, Teams zusammen stellen und Innovationen vorantreiben.
Sind Sie persönlich hoffnungsvoll oder pessimistisch bezüglich der Frage, ob wir als Menschheit noch die Kurve kriegen?
Wir sind letztlich Staubkörnchen in dem ganzen System. Und doch haben wir als Menschheit die Macht, das ganze System, den ganzen Planeten, kippen zu lassen. Wir sind aber nicht machtlos gegen eine solche Entwicklung. Zum einen hilft unsere Arbeit, Aufmerksamkeit für den Wert der Natur zu schaffen. Zweitens ist sie dazu da, Informationen und Motivationen für Investitionen in die Natur zu herbeizuführen. Drittens ist es eine Vision, die vielen Dimensionen der Natur in unsere Entscheidungsfindung zu integrieren. Das Brutto-Ökosystem-Produkt macht es möglich, Fortschritt nachzuvollziehen. Wir wissen damit genau, was wir verlieren und was wir gewinnen. Im Augenblick sind die Verluste wesentlich höher als die Gewinne. Der Planet geht gerade den Bach runter. Ich bin nicht optimistisch, aber ich bewahre mir meine Hoffnung.