Das Problem: Gerade Senioren sind in der Coronakrise häufig isoliert und können keinen Besuch empfangen.
Die Lösung: Adoptieren Sie eine Oma
Zeitgleich mit der Corona-Pandemie eskaliert noch eine andere Krise: die Einsamkeits-Epidemie. Schon vor der Isolation sagte ein Fünftel der Deutschen, sie fühlten sich einsam, und Wissenschaftler halten Einsamkeit für so fatal wie Übergewicht oder das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag. Im augenblicklichen Ausnahmezustand trifft es Senioren besonders hart: Sie zählen zur Risikogruppe und durften nicht einmal zu Ostern Besuch von ihrer Familie empfangen. In Bayern wohnt rund ein Drittel der über 65-Jährigen alleine; das sind mehr als 880.000 Menschen. Beim Seniorentelefon von der »Initiative Silbernetz«, auf das wir neulich bereits hingewiesen haben, gehen zur Zeit sieben Mal so viele Anrufe ein wie sonst, weil die Älteren niemanden zum Reden haben.
Ich sehe die Not bei meiner eigenen, 84 Jahre alten Schwiegermutter, die seit vier Wochen unter Corona-»Hausarrest« steht: Normalerweise bekommt sie in dem Pflegeheim, in dem sie lebt, fast jeden Tag Besuch von einem ihrer drei Kinder oder den zwei Enkeln. Nun können wir nur noch telefonieren. Weil die Pandemie vor allem in Heimen verheerend wirkt, darf sie nicht einmal mehr mit den anderen Bewohnern gemeinsam essen oder Karten spielen, und wir machen uns Sorgen, weil sie zunehmend verwirrt ist. Die Besuche und Gespräche hielten sie auch geistig fit und wach.
Weil wir bei weitem nicht die einzigen sind, die das beschäftigt, hier drei Lösungen:
1. Adoptieren Sie eine Oma
13 Pflegeheime in der Nähe von London haben eine Aktion gestartet: Adopt a Grandparent, also »Adoptiert Großeltern«. Die Pfleger von CHD Living, der die 13 Pflegeheime gehören, waren besorgt, dass ihre Schützlinge zunehmend vereinsamen. »Wir wollen unbedingt die Stimmung in den Heimen positiv halten«, sagte Shaleeza Hasham von CHD, »und deshalb haben wir darüber nachgedacht, wie wir den Alltag unserer Bewohner bereichern und sie Freundschaften schließen können, ohne sich zu gefährden.«
Die Heime hatten den Adoptions-Aufruf schon im letzten Jahr gestartet, allerdings mit persönlichen Besuchen von Freiwilligen aus der Nachbarschaft. In Corona-Zeiten geht es nur noch digital. So kam es zur Idee, den Radius der Interaktionen auszuweiten: Wenn sich die Älteren schon nicht im wirklichen Leben mit interessierten Freiwilligen treffen können, wäre es doch super, wenn sie sich mit Menschen auf der ganzen Welt unterhalten könnten. Die Organisation stellte einen Aufruf ins Netz – jeder, der Englisch spricht, kann sich bewerben. Die Pfleger fragen nach zuerst nach Hobbys und Interessen, dann verbinden sie die Fern-Freunde via Video mit einem Heimbewohner, von dem die Pfleger denken, die beiden könnten sich was zu erzählen haben. Andere telefonieren lieber oder schicken sich handgeschriebene Briefe und Postkarten.
Der Erfolg der Aktion ist verblüffend: Mehr als 50.000 Menschen aus der ganzen Welt haben sich in der vergangenen Woche beworben; auf Instagram äußern sich die Freiwilligen enthusiastisch (»Ich kann es gar nicht erwarten, meine neuen Großeltern kennenzulernen!«), und es sind ziemlich rührende Annäherungsversuche dabei, zum Beispiel wenn die fünfjährige Freya Zeichnungen mit ihren Lieblingstieren in die Kamera hält, um sie ihrer neuen Ersatz-Oma zu zeigen, der 74-jährigen Violet.
»Gerade die Älteren brauchen Stimulation, vor allem auch unterschiedliche Reize, damit sie gefordert werden und im Alltagseinerlei nicht abstumpfen«
Eine Oma oder einen Opa zu mieten, das gab es bisher auch in Deutschland schon, aber aus anderen Gründen: Familien suchten Ersatz-Großeltern, damit die bei der Kinderbetreuung helfen. Nun ist es umgekehrt: Familien und Jüngere helfen den Älteren aus der Einsamkeit. Das Problem ist massiv: Die Abschottung dient ja dazu, Leben und Gesundheit zu schützen. Gleichzeitig aber wissen Forscher, dass die Isolation auch Leben kosten kann – sie führt zu Depressionen, Demenz kann sich ohne regelmäßige Interaktionen verschlimmern, und das Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte ist gar um ein Drittel höher. »Gerade die Älteren brauchen Stimulation, vor allem auch unterschiedliche Reize, damit sie gefordert werden und im Alltagseinerlei nicht abstumpfen«, sagt eine Psychologin, die sich vor allem um ältere Klienten kümmert.
Übrigens: Wir würden auch gerne mit meiner Schwiegermutter facetimen, das scheitert aber an der Überlastung der Pfleger. Alleine kann sie die Technik nicht bewältigen, und die Pfleger machen derzeit ohnehin schon so viele Überstunden, dass sie beim besten Willen keine Zeit haben, das iPad für den Plausch mit der Familie vorzubereiten und während des Gesprächs daneben zu stehen.
Deshalb muss man auch anerkennend sagen: Die Heimbetreiber von CHD Living stellt ihren Pflegern ausdrücklich die Zeit und das Training zur Verfügung, die digitale Technik zu verstehen und mit ihren Schützlingen einzurichten. Sie erhofft sich davon mehr als eine kurzfristige Behelfslösung in Krisenzeiten: »Wir wollen das nicht nur in der Corona-Krise machen«, sagt die Heimleitung, »sondern wir hoffen, dass daraus dauerhafte Freundschaften zwischen den Generationen entstehen.« Das Beste: Viele andere Heimbetreiber fragen bereits bei CHD, wie sie das Programm kopieren können.
Wer in München helfen will: Prominente Schauspielerinnen und Schauspieler wie Elmar Wepper und Michaela May sind seit Ostern »Telefonengel« bei der Hotline für Senioren des Münchner Vereins Retla. Die Hotline ist sieben Tage in der Woche zu erreichen. Mehr als 300 Freiwillige haben sich dafür schon gemeldet, der Verein sucht aber noch weitere Helfer.
2. Die Zettel-Ampel
Vor ein paar Tagen machte das Bild von Olive Veronesi die Runde im Netz: Die 93-Jährige aus Pennsylvania hatte per Fensterschild bekannt gemacht, dass sie frisches Bier brauche. Der Erfolg ihrer Aktion – bald darauf lieferte eine Brauerei ihr etliche Dosen – zeigt, dass Fensterschilder in Zeiten des Lockdowns ein sinnvolles Kommunikationsmittel sein können. Es waren wohl die Bewohner einer Straße in Ripon, North Yorkshire, die mit dieser Idee anfingen: Weil dort viele ältere Menschen allein leben und es in Corona-Zeiten schwieriger ist, in Kontakt zu bleiben, haben die Anwohner ein Nachbarschafts-Hilfssystem organisiert. Statt für High Tech entschied man sich für das einfachste System der Welt: Post-Its.
In den Häusern von älteren oder gefährdeten Menschen hängt jetzt ein grüner, gelber oder roter Zettel im Fenster.
Grün heißt: Alles okay.
Gelb: Bitte helft mir, etwas zu besorgen.
Rot: Alarm. Ich brauche sofort Hilfe.
Die Nachbarschaftshilfe organisiert dann die entsprechende Unterstützung. Bestechend einfach und unbürokratisch.
Auch diese Idee verbreitet sich seit Wochen weltweit: In New Yorker Straßenzügen sieht man die Zettel nun häufiger, und im kalifornischen Mission Beach nutzen sie ein noch einfacheres System – grüne und rosa Zettel. Sarah Mattinson, die Betreiberin einer lokalen Bäckerei, verteilte zusammen mit der Stadtverwaltung und der Nachbarschaftshilfe große Papierbögen in grün und rosa an Senioren und andere Hochrisikogruppen in der Nachbarschaft. »Wir haben jetzt auch Milch, Eier, Klopapier und andere essentielle Sachen in der Bäckerei«, sagt Mattinson. »Wenn jemand was braucht, bringen wir es vorbei.«
Klar, einige warnen, das könne auch schiefgehen: Das sei ja geradezu eine Einladung für Betrüger. Aber Mattinson sagt: »Wir sind eine kleine Stadt, wo kommen wir hin, wenn wir nicht an das Gute im Menschen glauben?«
3. Französische Postboten
In Frankreich, finde ich, haben sie eine noch bessere Lösung: Schon vor der Corona-Epidemie konnten sich die Franzosen für knapp 40 Euro pro Monat bei der französischen Post für einen Extra-Service einschreiben: »Schau mal nach meinen Eltern« (Veiller Sur Mes Parents) heißt die Initiative. Die Postbotin kommt ohnehin vorbei, für die Extragebühr klingelt sie, fragt nach, wie es geht und ob die Leute etwas brauchen. Vielleicht bleibt sie auch auf einen Kaffee. Den Service kann man in der gewünschten Frequenz buchen: täglich, einmal die Woche, mit oder ohne Alarmknopf für Notfälle (wenn man den drückt, kommt allerdings nicht der Postbote, sondern der Notarzt). Wie der Name schon sagt, nehmen oft erwachsene Kinder teil, die nicht in der Nähe ihrer Eltern wohnen, aber manche Senioren melden sich auch selbst an, weil sie den Kontakt wollen und sich damit sicherer fühlen.
Seit die Post das Programm 2017 einführte, haben sich mehr als 6000 Seniorinnen und 1500 Senioren eingeschrieben. Die Initiative war aus der Not geboren worden: Nach einer brutalen Hitzewelle im Sommer 2013 wandten sich Stadträte an ihre örtlichen Postämter, um zu fragen, ob die Briefträger dabei helfen könnten, nach den älteren und schwächeren Einwohnern zu sehen. Die Post machte das anfangs umsonst und entwarf dann 2017 das gebührenpflichtige Extra-Programm. Seit der Coronakrise bietet die Post den Service für diejenigen, die ihn sich nicht leisten können, wieder kostenlos an – natürlich unter Wahrung des Sicherheitsabstandes. In manchen Gegenden in England und auch Südkorea gibt es ähnliche Programme unter Namen wie »Call&Check« oder »Safe and Connected«; finnische Postboten mähen sogar den Rasen, wenn es sein muss.
Es muss also nicht immer zu Mord führen, wenn der Postmann zweimal klingelt. Der Titel des berühmten Krimis von James Cain hat im Englischen übrigens eine weitere Bedeutung, die hier umso besser passt: »Es gibt immer eine zweite Chance.«