SZ-Magazin: Glückwunsch, Herr Nikolaus, die stressreichste Zeit des Jahres haben Sie seit gestern überstanden!
Nikolaus: Von wegen. Ich habe heute und sogar morgen noch einige Termine. Das beobachte ich nun schon seit einigen Jahren: Es scheint zunehmend schwer zu sein, dass sich die komplette Familie unter der Woche am frühen Abend zu Hause versammelt. Entweder schafft es der Vater nicht rechtzeitig, weil er jeden Tag mehrere Stunden zum Arbeitsplatz und zurück pendelt. Oder die Kinder sind im Sportverein. Deshalb kommt der Nikolaus dieses Jahr auch noch am 8. Dezember.
Heißt das etwa, dass der Nikolaus von der Zeitnot moderner Familien profitiert?
Absolut nicht. Alles in allem bestellen heute viel weniger Familien als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Damals war ich Mitte November schon total ausgebucht. Heute kann man den Nikolaus am 4. Dezember anrufen und bekommt noch einen Termin. Was hat sich verändert?
Früher hatte ich Besuche, da kam ich in eine Wohnung und der Vater saß vor dem Fernseher, Bierflasche in der einen Hand, Zigarette in der anderen. Die Mutter zog schnell die Wohnzimmertür zu, rief die Kinder herbei und schob sie in die Küche. Dann konnte der Nikolaus kommen. Solche Leute rufen heute gar nicht erst bei mir an. Das ist einerseits schön, denn kein Nikolaus wünscht sich so eine Situation. Andererseits denke ich mir: Gerade diese Kinder hätten es verdient, dass man sie besucht. Die Eltern, die heute den Nikolaus bestellen, bereiten den Besuch sehr schön vor. Es gibt Tee oder Kaffee und Lebkuchen, die Kerzen auf dem Adventskranz sind angezündet.
Der Nikolaus erreicht also nur noch bestimmte Schichten der Gesellschaft.
Nein, an Schichten lässt sich das nicht festmachen. Zum Glück. Ich habe eher den Eindruck, dass die Menschen generell heute mit den alten Bräuchen immer weniger anzufangen wissen. Schauen Sie sich nur den St. Martin an!
Warum? Es gibt doch immer noch jede Menge Martinsumzüge.
Schon, nur heißen die heute vielerorts Lichterumzug. Im Dunkeln mit einer Laterne herumzugehen ist sicher eine nette Sache. Aber die Geschichte, die dahinter steckt, gerät in Vergessenheit. Dabei zählt der heilige Martin zum europäischen Kulturgut. An seinem Beispiel hat man Jahrhunderte lang erklärt, wie Teilen und Sozialarbeit funktioniert. Ähnlich war es mit dem historischen Nikolaus: Er kümmerte sich als Bischof um die armen Menschen in der Stadt Myra. Deswegen bringt er ja bis heute Geschenke.
Vermutlich sind es nicht mehr nur Nüsse, Äpfel und Mandarinen.
Das wäre in meinen Augen immer noch das ideale Nikolausgeschenk. Vielleicht auch Schokolade oder Lebkuchen und dazu noch ein kleines Spielzeug, eine CD oder ein Matchbox-Auto. Aber heute kann es einem als Nikolaus passieren, dass man einen Riesenkarton mit einer Märklin-Eisenbahn ins Haus schleppen muss. Ich bin bisher nicht dahintergekommen, ob es in diesen Familien dann zu Weihnachten nichts mehr gibt. Oder die nächste Eisenbahn.
Trauern Sie bei all dem Kommerz manchmal den seligen Zeiten nach, als die Kinder vor dem Nikolaus noch richtig Angst hatten und nicht sofort an Geschenke dachten?
Nein, das war ein anderes Extrem. Es gab ja lange diesen Satz: Warte nur, bis der Nikolaus kommt! Eine völlig verfehlte Pädagogik, Gott sei Dank sind die Eltern da-von abgekommen. Und wenn nicht, dann bringe ich sie davon ab. Einmal war ich bei einem Grundschulkind, die ganze Verwandtschaft war versammelt, auch die Cousins. Da sollte ich doch glatt erzählen, dass dieser Erstklässler immer noch das Bett einnässt. So etwas mache ich definitiv nicht.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der Nikolaus über Knecht Ruprecht und singende Kinder.)
Besteht nicht ein Unterschied darin, die Kinder zu demütigen oder ihnen einfach nur ein bisschen die Leviten zu lesen?
Sicher, aber ich lehne beides ab. Wissen Sie, ich bin ja schon mit elf Jahren in der Nachbarschaft als Nikolaus aufgetreten. Damals war ich aufgeregter als die Kinder, die ich besuchte. Und deshalb der sanfteste Nikolaus, den man sich vorstellen kann. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass man als sanfter Nikolaus viel eher mit den Kindern ins Gespräch kommt als mit Schimpfen und Drohen. Das hat mir gefallen, und deshalb wäre ich nie auf die Idee gekommen, meinen Stil zu ändern. Später habe ich Pädagogik studiert und seitdem kann ich diese Haltung auch wissenschaftlich begründen. Wenn ich Kritik äußere, verpacke ich sie positiv. Ich sage dann: Das könntest du noch besser machen. Meist geht es eh nur um zwei Dinge: Zimmer aufräumen und mehr für die Schule tun. Aber glauben Sie’s mir: Der Mensch lernt am besten durch positive Verstärkung. Einfacher gesagt: durch Lob.
Gehört das Schimpfen nicht auch zum Brauchtum? Warum sonst treten neben dem Nikolaus so verwegene Figuren wie der Krampus oder Knecht Ruprecht auf?
Zumindest in München, wo ich unterwegs bin, hat der Krampus keine große Tradition. Außerdem möchte ich betonen, dass sich der Nikolaus diese wilden Gestalten – dort, wo sie ihn begleiten – ja durchaus dienstbar gemacht hat. Man spricht ja nicht umsonst vom Knecht Ruprecht.
Der Nikolaus schützt also die Kinder vor Krampus und Knecht Ruprecht.
Wenn es ein richtiger ist, ja. Ich vertrete sowieso die Ansicht, dass ein Nikolausbesuch ein Erlebnis sein soll, das die Kinder aufbaut. Da hat der Krampus eigentlich nichts verloren. Schauen Sie sich die Situation doch einmal aus der Perspektive des Kindes an: Da kommt ein Fremder ins Wohnzimmer – die sicherste Welt, die ein Kind kennt – und poltert herum. Das Kind sitzt in der ersten Reihe, dahinter, auf dem Sofa, die Eltern, die es sonst vor allem und jedem in Schutz nehmen. Aber jetzt sitzen sie da und helfen nicht.
Wenn Sie schon die Kinder nicht schimpfen wollen, würden Sie es manchmal gern bei den Eltern tun?
Mein Gott, nein! Das bringt ja genauso wenig wie bei den Kindern.
Singen die Kinder denn heutzutage noch oder sagen sie Gedichte auf, wenn der Nikolaus kommt?
Eher singen. Da freut sich der Nikolaus natürlich besonders.
Ehrlich? Ist es nicht ermüdend, zehnmal am Tag Lasst Uns Froh Und Munter Sein zu hören?
Nein. Erstens singen ja nicht alle und zweitens höre ich immer wieder neue Lieder. Fragen Sie mich jetzt bitte nicht, welche, ich kann mir die Titel meist nicht merken. Aber mir fällt auf, dass es bei Kindergarten- und Grundschulkindern jedes Jahr einen neuen Nikolaushit gibt. So ähnlich wie auf der Wiesn. Wahrscheinlich gibt es Bücher oder irgendeine pädagogische Webseite, wo diese Lieder verbreitet werden. Natürlich ist bei manchen Kindern die Aufregung so groß, dass sie nur ein oder zwei Töne zustande bringen. Ich beruhige sie dann und setze sie auch nicht unter Druck, unbedingt weiterzusingen. Das ist ja nicht der Sinn der Sache.
Sie haben vorher erzählt, dass Sie schon mit elf Jahren ein Nikolaus waren. Wie kam das?
Ein Junge in unserer Nachbarschaft war damals als Nikolaus unterwegs und hat mich gefragt, ob ich seinen Krampus machen will. Ich fand es natürlich sehr spannend, die Sache mal aus der anderen Perspektive zu erleben. Im nächsten Jahr habe ich mir dann selbst das Nikolausgewand übergezogen und bin mit einem anderen Freund im Viertel herumgezogen. Wir hatten einen Sack mit Nüssen und Mandarinen dabei und haben die jedem geschenkt, der uns über den Weg lief. Dabei hat uns ein Mann gesehen, der gerade sein Auto abgestellt hatte. Er habe dieses Jahr ganz vergessen, für seine Kinder einen Nikolaus zu bestellen, meinte er, ob wir nicht spontan mit ihm kommen wollten. Irgendwie hat es auch geklappt, und am Schluss hat er uns auch noch Geld gegeben.
Wie viel?
Zehn Mark. Das war seinerzeit, vor 35 Jahren, ein schöner Betrag. Danach hat uns aber niemand mehr angesprochen. Deshalb haben wir gesagt, nächstes Jahr machen wir Werbung. Wir haben dann auf einer alten Adler-Schreibmaschine Flugblätter geschrieben und die mit Reißnägeln an Telefonmasten gehängt. Damals gab es ja noch Telefonmasten, die praktischerweise aus Holz waren.
Was verlangt denn heute ein anständiger Nikolaus?
Kommt auf die Zahl der Kinder an. 30 Euro sind bis zu drei Kinder okay. In letzter Zeit erlebe ich auch, dass sich mehrere Familien oder Nachbarn zusammentun. Dann erwarten mich gleich sieben oder acht Kinder. In diesem Fall verlange ich 50 bis 60 Euro.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der Nikolaus über Betriebsfeiern und den Weihnachtsmann.)
Wie lange bleiben Sie in einer Wohnung?
Unterschiedlich. Mit einem Kind sind zehn Minuten schon lang, mit drei Kindern kann es auch zwanzig Minuten dauern. Ich bemühe mich, nicht zu hetzen. Andererseits muss ich ständig darauf achten: Freuen sich die Kinder noch, dass der Nikolaus da ist? Oder denken die vielleicht schon: Jetzt reicht’s aber?
Ganz schön undankbar, Ihr Job.
Ach was. Ich kann mich noch gut an meine eigene Kindheit erinnern: Da fand man es immer ganz aufregend, wenn der Nikolaus gekommen ist. Man war aber auch froh, wenn er wieder weg war.
Woher wissen Sie, wann es Zeit ist zu gehen?
Dafür entwickelt man als Nikolaus über die Jahre ein Gespür. Ich hatte mal einen Vater, der wollte unbedingt, dass ich eine halbe Stunde bleibe. Schon nach zehn Minuten dachte ich mir: Im Grunde ist alles gesagt. Und die Kinder wollten eigentlich lieber in ihr Nikolaus-Säckchen schauen. Stattdessen haben sie mir ihre Schulhefte gezeigt. Als wir das erledigt hatten, sah ich zum Glück ein Klavier in der Ecke des Wohnzimmers. Wer spielt denn bei euch Klavier?, fragte ich. Der Papa! Schön, dann spielt uns der Papa jetzt ein Lied vor: Hat er tatsächlich auch gemacht. Aber dann wurde es selbst ihm zu viel und er meinte: So, der Nikolaus hat noch einen weiten Weg, bringen wir ihn zur Tür. Da waren noch keine zwanzig Minuten vergangen. Ich dachte mir nur: Sehr schön, jetzt hat er’s auch kapiert.
Wie viele Besuche schafft ein Nikolaus pro Tag?
Wenn der 6. Dezember auf einen Samstag fällt, sind zehn Besuche drin. Durchschnittlich kommt man auf zwei Besuche in der Stunde. Sie müssen ja immer die Fahrerei mitrechnen. Ich lasse mich von Bekannten chauffieren, damit ich nicht auch noch einen Parkplatz suchen muss. Außerdem setze ich mich drei Tage vorher ins Auto und fahre die Route von Haustür zu Haustür ab.
Das hört sich ja sehr professionell an.
Ich finde, die Leute haben einen Anspruch darauf, dass der Nikolaus halbwegs pünktlich erscheint.
Gerhard Polt findet vor allem, dass der Nikolaus etwas hermachen soll.
Recht hat er. Zu einem richtigen Nikolaus gehört ein schönes Bischofsgewand.
Was kostet das?
Das Gewand kommt auf 500 Euro. Außerdem müssen Sie 150 Euro für eine schöne Mitra rechnen und noch mal 200 bis 250 Euro für den Bischofsstab. Dann hat man auch wirklich eine Triple-A-Ausstattung. Für den Anfang reicht als Bischofsstab auch ein langer Holzstock, umwickelt mit Staniolpapier. Mir ist allerdings mal ein Kollege begegnet, der trug einen roten Frottee-Bademantel, eine rote Skimütze und weiße Turnschuhe. Das hatte mit dem Nikolaus nichts mehr zu tun, nicht einmal mit dem Weihnachtsmann oder einem Gartenzwerg.
Wie stehen Sie überhaupt zum Weihnachtsmann? Empfinden Sie ihn als lästige Konkurrenz? Oder als billige Kopie?
Weder noch. Eigentlich ist er der beste Freund des Nikolaus, weil er ihm die ganzen Werbeauftritte abnimmt.
Das sehen Sie aber anders als der Nikolaus, den Erich Kästner einst interviewt hat. Der beklagte noch, der Weihnachtsmann würde ihm das Geschäft verderben.
Na ja, auch der Nikolaus lernt dazu. Ein schöner Weihnachtsmann vor einem Einkaufs-zentrum – wunderbar! Da hat der Nikolaus ohnehin nichts verloren. Er gehört in die Familien, zu den Kindern. Etwa die Hälfte der Eltern, die bei mir anrufen, fragen übrigens nach, ob ich auch wirklich ein Nikolaus bin und kein Weihnachtsmann.
Gehen Sie auch zu Betriebsfeiern?
Hin und wieder, wenn es eine ordentliche Feier ist, ohne Striptease und solche Geschichten. Allerdings sage ich den Leuten auch gleich immer: Eine Nikolausrede auf der Betriebsfeier kann ein gutes Mittel zur Personalführung sein – oder eine Tretmine.
Wie das?
Wenn ein Mitarbeiter vom Nikolaus gelobt wird, weiß er sofort: Das Lob kommt vom Chef, der sich offensichtlich Gedanken gemacht hat. Tadel ist in diesem Rahmen eher kontraproduktiv. Einmal wurde ich von einem amerikanischen Unternehmer gebucht. Während des Vorgesprächs gab er mir einen Zettel mit Bemerkungen zu jedem Mitarbeiter. Als ich den so durchlese, merke ich: Hier wird ja die komplette Belegschaft abgewatscht. Ich frage ihn: Wollen Sie wirklich, dass die Leute nach dieser Feier innerlich kündigen? Natürlich nicht, sagte er. Nur habe er gehört, dass der Nikolaus in Deutschland immer schimpft. Also habe ich mich mit dem Mann hingesetzt und für jeden Mitarbeiter überlegt, was man Gutes über ihn sagen könnte.
Was kam bei dem Brainstorming heraus?
Es gab nur einen einzigen Mitarbeiter, zu dem diesem Unternehmer absolut nichts einfallen wollte. Ich habe gesagt: Wenn das wirklich stimmt, dann müssen Sie dem Mann auf der Stelle kündigen. Sie können doch keinen Mitarbeiter behalten, zu dem Ihnen nichts Positives einfällt. Gehen Sie zu Ihrer Sekretärin und setzen Sie die Kündigung auf. Das wollte er dann auch nicht.
Dass der Nikolaus als Personalberater einspringen muss, ist wahrscheinlich eher selten. Aber welche Eigenschaften oder Fähigkeiten sollte er Ihrer Meinung nach unbedingt mitbringen?
Er sollte natürlich andere Menschen mögen, vor allem Kinder. Die biografischen Daten des historischen Nikolaus sollte er auch kennen. Und schön wäre es, wenn er halbwegs gut und frei reden könnte. Das macht es leichter, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen.
Kann man Ihren Job weiterempfehlen?
Einem wirklich guten Nikolaus muss man diesen Job nicht empfehlen. Der macht ihn einfach und kommt nie mehr davon los.