»Auf einem Familienfest gab mein Bruder im Beisein seiner erwachsenen Kinder eines meiner Kindheitserlebnisse als seines aus. Ich habe natürlich sofort darauf reagiert, woraufhin mein Bruder meinte, ich solle das doch mal so stehen lassen. Mir hat es nur die Sprache verschlagen. Ich kann nicht verstehen, warum jemand die Erlebnisse eines anderen als seine eigenen hinstellt, zumal mein Bruder zum Zeitpunkt des Geschehens gar nicht dabei war. Er kennt die Geschichte nur von Erzählungen. Helfen Sie mir bitte, das zu verstehen.« Gudrun V., München
Warum gibt sich Thomas Manns Felix Krull als Marquis de Venosta aus? Warum behauptet der verarmte Landadelige Don Quijote, ein Ritter zu sein, und erzählt von Abenteuern, die er nur aus Ritterromanen kennt? Und warum erzählt Falstaff in Shakespeares Heinrich IV., nachdem er überfallen und um Geld erleichtert wurde, er habe siegreich gegen zwei, ach was, neun, zehn, elf Ganoven gekämpft? Weil die meisten Geschichten halt besser klingen, wenn man sie besser erzählt. Und ein Kindheitserlebnis, das dem eigenen Vater passiert ist, klingt einfach noch mal eine Ecke interessanter, als wenn es nur der Tante passiert ist.
Nehme ich an, die ich weder die betreffende Geschichte kenne noch mehr über das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Bruder weiß. Es klingt, als sei es momentan nicht das allerbeste. Als gebe es zwischen Ihnen beiden ein Problem, das um einiges tiefer geht als nur diese eine, mutmaßlich um des besseren Effekts ausgeborgte Geschichte. Denn sonst könnten Sie da ganz nonchalant drüberstehen. Den Kindern Ihres Bruders lachend eröffnen, dass diese Geschichte wirklich genial erzählt wurde, allerdings in Wahrheit Ihnen passiert sei. Oder gutmütig annehmen, dass Ihr Bruder sich wohl einfach falsch erinnert. Es ist ja bekannt, dass Erinnerungen nichts Festes sind, sondern zu einem guten Teil fiktiv. Sie verändern sich auch, und wohl jeder von uns meint sich auch an Sachen zu erinnern, die wir in Wahrheit nur vom Hörensagen kennen. Oder von Fotos. Aber Sie scheinen Ihrem Bruder eine böse Absicht zu unterstellen. Und allzu freundlich wirkt sein Konter auch nicht.
Klären können Sie das allerdings nur mit Ihrem Bruder. Vermutlich wissen Sie das und haben hierher geschrieben, um der direkten Konfrontation noch mal kurz aus dem Weg zu gehen.

