Die Frage, wie man Bücher sinnvoll sortiert, stellt sich einem ab dem zweiten Buch. Insofern bedeuten die neuen elektronischen Lesegeräte, die für sich in Anspruch nehmen, jedes jemals gedruckte Buch anzeigen zu können, auch keinen Fortschritt. Falls man sowohl einen Kindle als auch ein iPad besitzt, muss man sich schon Gedanken machen, ob man den Kindle neben das iPad ins Regal stellt oder das iPad neben den Kindle. Drei Geräte ermöglichen schon sechs Varianten.
Wer das jetzt für Blattspalterei hält, hat sich dem Problem der Buchanordnung noch nicht genähert. Man sollte es auch nur vorsichtig tun, denn darüber kann man verrückt werden, wie eine simple Rechnung zeigt. Dreiundsechzig Bücher füllen zwei Meter Regal. Wie viele Möglichkeiten gibt es, diese dreiundsechzig Bücher anzuordnen? Tausend? Eine Million? Eine Milliarde? Nicht mal ansatzweise. Es sind mehr Möglichkeiten, als es Elementarteilchen im Universum gibt.
Mit reiner Kombinatorik kommt man den Büchern also nicht bei, was man braucht, ist: ein System. Leider gibt es nicht ein System, sondern richtig viele: nach Sachgebiet, Autor, Verlag oder Erscheinungsjahr. Auch der »Regensburger Verbundklassifikation«, mit der viele wissenschaftliche Bibliotheken arbeiten, gelingt es nicht, jedem Buch einen – und nur einen – Platz zuzuweisen. Immer wieder muss man sich entscheiden, ob dahin oder dorthin. Selbst eine Ordnung nach der ISBN-Nummer weist Lücken auf, weil es Bücher gibt, die keine solche Nummer haben. Notizbücher. Tagebücher. Telefonbücher. Und was ist mit der Buchhaltung?
Die Leute in der Chefetage des Münchner Verlegers Hubert Burda wüssten, wo sie das Telefonbuch hinstellen würden, nämlich in den Abschnitt G wie Gelb. Burdas Bücher sind tatsächlich farblich sortiert, was eine Art Regenbogen aus Papier erzeugt. Leider findet man in dem Bücherreigen nichts wieder. Ein Mitarbeiter berichtet, dass er immer erst bei Amazon gucken muss, welche Farbe der Einband eines gesuchten Buches hat, um es anschließend im Regal zu finden.
Ein Problem bereiten mir zum Beispiel Lookbooks von Modeunternehmen. Braucht man hin und wieder, wenn man in dieser Branche tätig ist. Keine ISBN, kein Autor, kein Verlag. Ich habe die Broschüren in einen Schuhkarton gepackt, aber der wirkt an jeder Stelle der Bibliothek wie ein extraterrestrischer Monolith.
Am schlimmsten sind aus meiner Sicht die Zeitschriften, die verdammten Zeitschriften. Sieben Meter, sie zu sortieren dauerte einen Tag. Bei mir sind sie alphabetisch geordnet, von A wie Amica bis Z wie Zoo. Wenn auch thematisch eher leichte Muse, ist ein Meter Vogue sauschwer, die Mode bringt das Regal an den Rand seiner Tragfähigkeit. Dafür entwickelt hier die Bibliothek ihre größte Ordnung: weil Monocle schön brav neben Monopol steht. Darüber die überformatigen Bände, die nur liegend ins Regal passen. Daneben stehen bei mir die Bücher, deren Autoren ich persönlich kenne. Dann die Bücher, die ich doppelt habe. Bücher, von denen ich mich trennen möchte. Liebend gern etwa von meinem bisher einzigen selbst geschriebenen Buch. Die zwanzig Exemplare liegen wie Blei im Regal, bei mir und in den Buchhandlungen auch. Die Lexika hat das Internet überflüssig gemacht, bei den ökonomischen Theoriewerken war es die Finanzkrise. Links unten: Kinderbücher – auf Augenhöhe meines dreijährigen Sohnes. Eine Umsortierung ist unbedingt zu vermeiden, um die frühkindliche Entwicklung zum Leser nicht zu stören. Kinder brauchen Halt und Orientierung, es ist nicht gut, wenn ihre Welt sich ändert. Links oben dann das totale Chaos.
Das Chaos ist wichtig, denn erst im Chaos entstehen die Überraschungen, zu denen Bücher fähig sind. Erst die Suche nach einem bestimmten Buch lässt einen Bücher finden, nach denen man nicht gesucht hat. In diesem Zusammenhang fällt mir ein unglaublich schlaues Buch ein: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat von Pierre Bayard. In dem buchweltumspannenden Werk sind schlaue Sätze zu lesen über die Ordnung der Bände. Zum Beispiel folgender: »Die Gebildeten wissen es – vor allem aber wissen es die Ungebildeten zu ihrem Unglück nicht –, dass Bildung in erster Linie eine Sache der Orientierung ist. Gebildet zu sein bedeutet nicht, das eine oder andere Buch gelesen zu haben, es bedeutet, sich in der Gesamtheit aller Bücher zurechtzufinden, also als Erstes zu wissen, dass sie eine Ganzheit bilden, und dann in der Lage zu sein, jedes einzelne Element im Zusammenhang mit den anderen einzuordnen.«
Ich wünsche mir eine allumfassende Ordnung im Internet, es müsste etwas sein wie Facebook, das einem hilft, den Überblick über die eigenen Bücher zu behalten, also quasi ein Bookbook. Bücher wären mit anderen Büchern befreundet, über die in ihnen beschriebenen Personen, seien sie real oder fiktiv. Alle Krimis, in denen der Gärtner der Mörder ist, wären die dicksten Kameraden.
Kaum hat man den Gedanken formuliert, findet man ihn auch schon im Netz so ähnlich verwirklicht. LibraryThing heißt die Seite, bei der einander wildfremde Leute ihre Bibliotheken ins Netz stellen, darauf hoffend, Gleichgesinnte zu treffen oder Anregungen für Neuerwerbungen zu finden. Auch die Bibliothek von Franz Kafka steht dort im Netz – natürlich ohne sein Zutun; alle Bände sind dort verzeichnet, nur nicht, wie er sie sortiert hatte, aber das war vermutlich kafkaesk.
Wie man es dreht und wendet, wie jedes Buch hat auch die Diskussion über Bücher immer mehr als eine Seite. Das Wichtigste in einer Bibliothek sind nicht die Bücher – das Wichtigste sind die Lücken dazwischen, denn nur in den Lücken kann die Sammlung wachsen. Wobei es auch wieder exzellente Argumente gibt, seine Bücher lückenlos dicht an dicht zu stellen. Denn Bücher, zwischen die kein Blatt mehr passt, brennen nicht. Auch der größte Feuersturm, das weiß die Bayerische Staatsbibliothek in München aus Erfahrung, kokelt sie dann nur an. Man kann sie, wenn das Feuer vorbei ist, immer noch lesen, und dort, wo früher der Goldschnitt glänzte, hat der letzte Krieg, den das Land erlebt hat, einen Trauerrand hinterlassen.
Ein weiteres Ärgernis am Rande bilden die Buchrücken. Die Verlage bedrucken sie mal »amerikanisch«, mal »klassisch« , also von oben nach unten oder von unten nach oben. Globalisierte Leser müssen sich kopfwippend am Regal vorbeibewegen, ähnlich wie die Zuschauer beim Tennis. Dem Profi ist das egal: »Wir interessieren uns nicht für die Titel, nur für die Signaturen«, sagt Peter Schnitzlein, der Pressesprecher von 300 Kilometern Buchregal. Zehn Millionen Werke hat die Bayerische Staatsbibliothek archiviert. Würden sich zwei frisch ausgebildete Bibliothekare mit jedem verfügbaren Band auch nur eine Minute beschäftigen, etwa um ihn abzustauben, eine Signatur auf den Rücken zu kleben oder einen Exlibris-Stempel hineinzudrücken, wären sie bis zur Vollendung ihres 70. Lebensjahres damit beschäftigt.
Eine Buchwand ist nichts, was man einmal aufräumt. Das Aufräumen ist ein immerwährendes Projekt. Eine Bibliothek befindet sich im Fluss, nur kurzfristig erscheint sie ihrem Besitzer als statisch. Sie teilt sich in die Bücher, die da sind, die mal da waren, die noch kommen werden und die verschwinden werden, versehentlich oder absichtlich. In Asien zum Beispiel, wo Rucksacktouristen verkehren, gibt es kleine Bibliotheken, in denen jeder ein handzerlesenes Buch dalassen und dafür ein anderes mitnehmen kann. Bei dem ganzen Hin und Her entstehen höchst erstaunliche Sortierungen.
Jede Bücherordnung muss also auch in der Zeit funktionieren. Wenn man sich eine Bibliothek als lebenden Organismus vorstellt, der sich Bücher einverleibt, dann muss er sie an anderer Stelle auch wieder ausscheiden, sonst platzt irgendwann der Schrank. Das passiert gerade der Staatsbibliothek: »Wir makulieren nicht.« Mit der Folge, dass schon 2013 kein Platz mehr ist in der Garchinger Lagerhalle, die auf Luftbildern wie ein Flugzeughangar wirkt. Es müsste längst gebaut werden, allein: Das staatliche Geld ist knapp. Hunderttausend neue Bücher erscheinen pro Jahr, und die müssen ja alle irgendwo unterkommen.
Verglichen mit den 300 Kilometern staatlichem Regal wirkt mein neun mal sieben Meter langes Sortierproblem bescheiden; doch auch mir fehlt der Platz. Meine Sammlung an SZ-Magazinen – präzise zwei Meter und zehn Zentimeter Regalbedarf – habe ich weggegeben. Die alten Hefte lagern jetzt in einem Keller der Süddeutschen Zeitung. Also genau dort, wo sie einst hergekommen waren.
Die Trennung fiel schwer, aber ich tröste mich, dass es das SZ-Magazin ja auch in der Staatsbibliothek gibt. Ein Blatt des Magazins, das Sie in Händen halten, ist nullkommanullfünf Millimeter dick, ich habe es nachgemessen. Dieser Artikel hier verschlimmert den Schlamassel der Stabi also um präzise fünf hundertstel Millimeter, das sei erlaubt.
Übrigens: In den drei Tagen, die es dauerte, die Gedanken für diesen Text zu sortieren, hätte ich mein ganzes Regal in Ordnung bringen können. Aber man muss sich entscheiden, ob man das Regal aufräumt oder seine Rübe. Stimmen die Koordinaten im Kopf, wird einem das Regal egal.
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