Der Konservativismus unserer Großväter sprach von Gott und Vaterland, Familie und Anstand. Unsere Väter verteidigten Freiheit gegen Sozialismus, humanistische Bildung gegen die Gesamtschule. Die Generation Golf schließlich rebellierte gegen Sozialdemokratie und Pazifismus als Lebensstil. Und seit den Neunzigerjahren macht es sich eine neue Bürgerlichkeit in den Stuckaltbauten des wiedervereinten Berlin bequem. In der Zeit von Karol Wojtyla wurde der Katholizismus auch bei uns wieder diskursfähig. Seit konservative Politiker Parallelgesellschaften in Einwanderervierteln entdeckten, wird von Leitkultur gesprochen. All das änderte kaum etwas daran, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik im Lauf der Jahrzehnte immer libertärer und lockerer wurde. Protestbewegungen verwandelten sich in Parlamentsfraktionen, die Frauenquote dringt bis zur CSU vor, die Schwulenehe wird bald sogar steuerlich gleichberechtigt sein.
Das Konservative zeigte sich in den letzten Jahrzehnten vor allem als Rhetorik und als Stil: Die Alten sprachen von Werten, die Jungen wurden wieder manierlich und zogen sich gewählte Sachen an. Einige lasen sogar Ratzinger. Doch in Wirklichkeit galt: Der ewige Kampf, der seit der Französischen Revolution in jeder Generation zwischen der Partei der Ordnung und der Partei der Bewegung, zwischen Beharren und Fortschritt, zwischen Tradition und Rebellion herrschte, schien kaum irgendwo so befriedet wie in Deutschland. Vor allem nachdem Deutschland erst den linken Terrorismus besiegt und dann den Kalten Krieg beendet hatte. Der Politologe Herfried Münkler hat soeben noch einmal eine riesenhaft verbreiterte Mitte als rundliches Zentrum unserer Gesellschaft ausgemacht. Diese Mitte aber ist so liberal, dass sie eines parteipolitisch geschärften Liberalismus kaum noch bedarf.
Aber ändert sich nicht doch etwas? Seit einigen Jahren führen wir Demografiedebatten, Migrantendebatten und Sozialstaatsdebatten. Diese Themen bündelt das erfolgreichste politische Buch, das in der Geschichte der Bundesrepublik je erschien – Thilo Sarrazins Weckruf Deutschland schafft sich ab. Die um ihre breite Mitte kreisende Politik wurde kalt erwischt. Noch ist daraus keine politische Bewegung geworden, aber Sarrazins Forderungen werden die Parteien der Mitte so verändern, wie es auf der anderen Seite der kurzfristige Erfolg der Linkspartei auch tat. Die Assimilationskraft der Mitte steht vor einer neuen Bewährungsprobe.
Doch die Debatten, der politische Betrieb, die Schlagworte sind das eine. Das andere sind unsere Sorgen und unser Verhalten. Und da zeigt sich, dass konservative Motive nicht mehr nur Diskurs- und Stilangebote sind; das Konservative verlässt seine Manufactum-Phase und wird zu einem Reaktionsmuster. Als Botho Strauß 1993 ahnte: »Die Welt wird reißend konservativ«, war damit noch eine intellektuelle Verschiebung gemeint, das Ende emanzipatorischer Hoffnungen, die Rückkehr des Pessimismus. Heute geht es eher um Schulen, ums Wohnen, ums Einkaufen und ums Steuerzahlen. Prüfen wir unseren Alltag, prüfen wir uns selbst.
I. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern
Jedem ist die Zukunft seiner Kinder wichtig. Kinder aber, so fasste es ein liberaler Kollege einmal zusammen, Kinder sind CDU. Ordentliche stabile Familien stehen gerade hoch im Kurs. Die Zeit der Lebensexperimente scheint erst einmal vorbei. Vor allem brauchen Kinder eine gute Ausbildung. Also sind Schulen und Schulpolitik so wichtig wie schon lange nicht mehr. Eltern achten auf die Qualität des Unterrichts, insbesondere auf die Zusammensetzung der Schulklassen. Wenn der Anteil von Migranten- oder Hartz-IV-Nachwuchs zu hoch ist, ergreifen sie die Flucht. Die soziale Selektion beginnt im Alter von sechs. Gemeinsames Lernen von Starken und Schwachen wird verpönt, in Hamburg soeben ausdrücklich in einer Volksabstimmung. Bildung soll nicht mehr vorrangig der Entwicklung der Persönlichkeit, der Selbstverwirklichung und der sozialen Mobilität dienen, sie wird nicht mehr als Instrument des gesellschaftlichen Fortschritts verstanden.
Vor allem dient sie dem individuellen Vorankommen, der Sicherung des Status. Im Großen, auf die Gesellschaft insgesamt projiziert, heißt das, Bildung soll ein Standortfaktor im globalen Wettbewerb sein, nicht ein Medium gesellschaftlicher Befreiung und staatsbürgerlicher Tugenden. Ja, es gibt auch wieder mehr Interesse an Latein und Griechisch, aber wofür? Eher nicht zur Entwicklung humanistischer Persönlichkeiten, sondern als exklusivstes Standesmerkmal, das auf dem Markt zu haben ist. Bei all dem werden Kinder überwacht, umsorgt, gefördert, angespornt wie noch nie. An die Stelle von Strafe und Belohnung ist ein übermächtiger emotionaler Erwartungsdruck getreten: Du darfst nicht versagen. Es war schon einmal leichter, Kind zu sein.
II. Die Angst vor den Kopftuchmädchen
Nicht nur im Zusammenhang mit der Sorge um die Kinder (wenn auch hier besonders) fürchten wir uns vor den Migranten. Ganz Deutschland hat durch laute und schnell geschnittene Filme erfahren, wie es in Berlin-Neukölln zugeht: Harte Macho-Orientalen beherrschen mit Messerstechermanieren die Straßen und Schulhöfe, ihre Frauen und Mädchen leben eingeschlossen oder unterm Schleier, blonde deutsche Jugendliche werden abgezockt. Der Islamismus ist ein Problem der Weltpolitik, aber offenbar auch unseres einst so friedlichen Alltags. Unterdrückt er nicht die Frauen? Droht er nicht, uns mühsam erworbene Freiheiten wieder wegzunehmen?
Das Gesicht der liberalen Migrantenfurcht ist weiblich und feministisch, es trägt Namen wie Alice Schwarzer und Necla Kelek; gelegentlich tauchen auch bekennende Juden auf, die vor einer dritten totalitären Welle nach Kommunismus und Faschismus warnen. Der Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky bindet durch betont berlinernden Klartext den redlichen kleinen Mann ein. So bekommt die immerwährende Furcht vor Fremden, die im Streit um Asylanten und Neonazis der Neunzigerjahre noch durch Lichterketten und Aufrufe zum Anstand eingedämmt wurde, einen aufgeklärten, zivilisiert-bürgerlichen Anstrich. Das Publikum von Kelek, Schwarzer und Sarrazin ist weißhaarig und bildungsbürgerlich, früher hätte man es auf Kirchentagen vermutet (es weiß die »christlich-jüdischen Grundlagen« unserer Gesellschaftsordnung zu schätzen). Die Sorge um die Leitkultur hat die Mitte der Gesellschaft erreicht, und wer heute eine Wohnung mietet, schaut längst auch auf die Namen an den Klingelschildern.
III. Die schwäbische Hausfrau
Nicht erst seit der Finanzkrise machen wir uns Sorgen um den Staatshaushalt. Vermutlich war die Einführung des Euro im Jahre 2002 die vorerst letzte zukunftsgerichtete finanzpolitische Entscheidung, die den Deutschen abverlangt werden konnte. Seit den Diskussionen um Hartz IV hören wir, dass man nicht über seine Verhältnisse leben dürfe. Der arbeitende Teil der Gesellschaft hat das Gefühl, dass zu viele Transferleistungen quer durch die Gesellschaft fließen, von den Produktiven zu den Unproduktiven. Die Schuldenberge wachsen. Diese Befürchtung überschneidet sich wie die Migrantenfurcht mit der Sorge ums Wohl der Kinder: Müssen sie diese Schulden nicht dereinst bezahlen?
Dann kam die Finanzkrise, und eine Urangst des deutschen Bürgertums kroch aus dem Grabe: Verlust des Ersparten, womöglich Inflation. Schon der dauerhaft hohe Sockel an Arbeitslosen hatte ein Volk verstört, das einst eine Diktatur aus einer Wirtschaftskrise hatte entstehen sehen; darum waren die harten Schnitte der Sozialreformen gerade noch akzeptiert worden. Doch seit der Finanzkrise scheint die Geduld am Ende: Die Rettung des griechischen Staatshaushalts konnte nur um den Preis heftiger Popularitätsverluste durchgesetzt werden, die Kanzlerin musste sich den deutschen Beitrag betont widerstrebend abringen lassen. Und das heißt: Wir sind deutlich weniger gern Europäer als noch vor wenigen Jahren, als die Wiedervereinigung Deutschlands nur im europäischen Rahmen gelingen konnte. Die Furcht vor Schulden sagt aber vor allem, dass wir der Zukunft keinen Kredit mehr geben. Wir vertrauen nicht mehr dem Wachstum, das dies alles abtragen kann. Wir blicken auf unsere Rentenbescheide und fürchten uns noch mehr. Niemand hat etwas zu verschenken. Und bevor die sparfreudigen Deutschen wieder mehr ausgeben, müssen aus den optimistischen Prognosen der letzten Wochen zu Wachstum und Beschäftigung wohl erst stabile Tatsachen werden.
Das Methusalem-Komplott und die geliehene Erde
IV. Das Methusalem-Komplott
Um 2002 trat in unser Bewusstsein, dass wir eine alternde Gesellschaft sind. Die geburtenstarken Jahrgänge um 1960, dann die Ostdeutschen nach 1990 haben nicht für genügend Nachwuchs gesorgt. Der Altersaufbau der Gesellschaft, im Idealfall ein sich nach oben verjüngender Tannenbaum, wird zu einer Grabplatte, die auf einem dünnen Fuß stehen muss. Demografie aber, so lernen wir, ist auf Jahrzehnte hinaus Schicksal. Die Kinder, die gestern nicht auf die Welt kamen, fehlen nicht nur heute, sie können auch für morgen keinen Nachwuchs mehr erzeugen. Also pumpt der Staat hektisch Geld zu den Eltern, in die Kinderbetreuung. Und weil Kinder so wertvoll sind wie nie, werden sie so umsorgt und gehätschelt und mit Erwartungen belastet wie nie.
Gut ausgebildete Kinder sind unser wichtigstes Kapital – wie es den Kindern dabei geht, tritt in den Hintergrund. Aber auch alles andere muss umgestellt werden: die Pflege, das Gesundheitswesen, die Sozialsysteme. Riester-Rente, Rente mit 67, die Sorge ums kommende Alter überschneidet sich nicht nur mit der Sorge um den Nachwuchs, sondern auch mit der um den Staatshaushalt und die Geldstabilität. Und sie füttert unsere Furcht vor Migranten: Haben sie nicht höhere Geburtenraten? Furchterregende Zahlen machen die Runde: Bald wird in großdeutschen Innenstädten ein Drittel des Nachwuchses nichtdeutsche Wurzeln haben, ja dem islamischen Glauben angehören. Integration verwandelt sich in diesem Umfeld von einem liberalen Programm der Zugehörigkeit in eine Dringlichkeitsvorlage zur Zukunftssicherung. Da man die Fremden braucht, sollen sie werden wie wir. Nicht umsonst bestimmen Kanondebatten und Rankings einen Teil der öffentlichen Kultur: Eine Gesellschaft, die sich vor dem Kommenden fürchtet, sichtet ihre Bestände.
V. Wir haben die Erde nur geliehen
Derzeit weht wieder das gelbe Banner der Anti-Atomkraft-Bewegung mit der roten lächelnden Sonne. Was wie Retro der Siebzigerjahre aussieht, ist aber taufrisch: die Protestbewegung für die ganze Familie, vom Großvater bis zur Schülerin. Auch das gehört zur bürgerlichen Mitte, und es hat ja gute Argumente für sich: Wie können wir gefährlich strahlenden Müll hinterlassen, der noch die nächsten fünf Eiszeiten überdauern muss? Dass die ökologische Bewegung mit ihrer Wahrnehmung von der Endlichkeit natürlicher Ressourcen einen konservativen Zug hat, ist schon früh verstanden worden. Die Grüne Partei entstand auch aus dem Widerstand der Winzer des Kaiserstuhls gegen ein geplantes Kernkraftwerk bei Wyhl.
Inzwischen hat das ökologische Bewusstsein unseren gesamten Alltag reglementiert: Wir trennen unseren Müll und drücken im Klo auf die Wasserspartaste, wir studieren Lebensmittelverpackungen wie die Beipackzettel von Medikamenten. Wir wollen gesund bleiben und dem Erdball keinen Schaden zufügen. Also kaufen wir nach Möglichkeit in den richtigen Geschäften. Äpfel müssen nicht aus Neuseeland kommen, Brandenburg tut es auch. Das Zauberwort des ökologischen Konservativismus heißt Nachhaltigkeit. Es beschwört das Ideal eines Lebens, das nichts verbraucht, sondern im immerwährenden Kreislauf des Naturstoffwechsels verbleibt, im Werden und Vergehen. Dieses Leben ist gewaltfrei und sparsam. Es häuft keine Schulden an, und es will, dass alle sich an diese Regeln halten. Auch Nachhaltigkeit ist ein Leitkulturprogramm: nur kein Verjubeln, kein Überschießen, kein ostentativer Konsum. Den Protestantismus als Religion und Lebensführung gibt es nicht mehr, dafür haben wir die Nachhaltigkeit. Denn die Erde haben wir nur von unseren Kindern geliehen, diesen teuren, umsorgten, von so viel Schulden und Ängsten belasteten Wesen.
All das ändert aber nichts daran, dass die Welt da draußen alles andere als reißend konservativ ist; sie verändert sich weiter reißend. Der Weltmarkt bekommt neue große Spieler, die Waren und Geldströme rasen immer irrwitziger, neue Weltmächte sind längst über den Horizont gestiegen, hungrige arme Völker streben mit Macht zum Wohlstand. Unsere Kommunikationsformen haben sich in den letzten zehn Jahren so revolutioniert wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Wenn in Dänemark Karikaturen erscheinen, toben die Massen in Pakistan. »Alles wackelt«, rief Ernst Troeltsch, Theologe und Freund Max Webers 1896 bei einem Philosophenkongress in die Abendsonne der bürgerlichen Welt. Er hat recht behalten.
Illustration: Julia Volkmar