»Ich habe was zu sagen!«

    »MANCHMAL SPRECHE ICH MIT MEINEN BILDERN«
    Magda Wahl, 90, Rentnerin

    Seit acht Jahren ist mein Asthma sehr schlimm. Ich kann mein Zuhause nicht mehr verlassen, weil ich bei einem Anfall schnell ans Atemgerät im Wohnzimmer muss. Sonst würde ich ersticken. Bevor meine Krankheit sich so verschlechterte, habe ich noch in einem Blumenladen gearbeitet und konnte allein einkaufen gehen. Jetzt nicht mehr. Das Essen lasse ich mir von Tengelmann schicken, und was ich sonst zum Leben brauche, bringt mir meine Nachbarin mit. Im Haus selbst brauche ich keine Hilfe. Das Atemgerät kann ich allein bedienen, nur mein rechter Zeigefinger behindert mich beim Kochen und Waschen – der ist seit einem furchtbaren Rheumaanfall nämlich steif.

    Früher, als ich gesund war, hatte ich ein wirklich aufregendes Leben: Mein Mann baute in der ganzen Welt Keramikwerke und wir haben viele Jahre in Jugoslawien, in Kalkutta und der Türkei gelebt. Ich denke oft an diese Zeit zurück und bin sehr dankbar. Aber jetzt bin ich ganz allein. Ich habe keine Kinder, mein Mann ist vor 20 Jahren gestorben. Er hat mir ein wunderbares Leben ermöglicht, aber wir hatten auch furchtbare Zeiten: Er musste in den Krieg. Kurz vor Weihnachten 1944 haben wir uns noch mal gesehen. Danach hörte ich zwei Jahre nichts mehr von ihm, ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt. Das war schrecklich. Ich musste weiterarbeiten und weiterleben, als wäre nichts gewesen. Über eine katholische Gemeinde in Leipzig, wo ich damals wohnte, erfuhr ich dann 1946, dass er in französischer Kriegsgefangenschaft war. Ein Jahr später kam er zurück und ich hatte das Gefühl, da steht ein fremder Mensch vor mir. Ich wollte mit ihm über seine Erlebnisse reden, aber er wurde richtig wütend. »Der Krieg macht dich zur Bestie«, hat er gesagt. Dabei war er ein so sanfter Mann. Wir haben nie mehr über den Krieg gesprochen.

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    Nach seinem Tod vor zwanzig Jahren hatte ich wenigstens noch meine Freundinnen, mit denen ich reden konnte. Dann starben auch sie und meine Krankheit wurde schlimmer. Ich war in meiner Wohnung gefangen. Das macht mich sehr traurig, es nimmt mir die Luft zum Leben. Deswegen vermiete ich seither zwei Zimmer meiner Wohnung: Damit ich nicht so allein bin. Zurzeit wohnen zwei Chinesinnen zur Untermiete bei mir, aber die arbeiten den ganzen Tag. Die interessieren sich auch nicht für mich, eine alte, kranke Frau. Dabei würde ich gern der Jugend von meinen Erfahrungen erzählen, zum Beispiel von meinem Leben in der Türkei. Ich war fünf Jahre dort und habe noch mit über fünfzig Jahren Türkisch gelernt. Wie gastfreundlich die Menschen dort sind! Die Muslime sind keine schlechten Menschen, das würde ich den Jugendlichen gern sagen. Aber die würden mir sowieso nicht zuhören. Ach, manchmal kann die Jugend sogar richtig gemein sein: Einmal bin ich mit einer Freundin zum Blumenladen ihrer Tochter gefahren, um dort zu helfen. Meine Freundin hatte Zitterlähmung, das begann damals gerade, und konnte deshalb nur ganz langsam in die Tram einsteigen. Da haben zwei junge Burschen gesagt: »Kümmert euch doch lieber um einen Sarg, statt uns die Plätze wegzunehmen!« Das habe ich nicht auf mir sitzen lassen, ich habe mich umgedreht und gerufen: »Wartet mal ab, bis ihr so alt seid wie wir, hoffentlich sagt das dann auch jemand zu euch!« Damals konnte ich auf so etwas noch reagieren. Heute würde ich heulen, heute könnte ich das nicht mehr ertragen. Ich habe einfach keine Kraft mehr, vielleicht ist sie verbraucht nach so vielen Jahren.

    Wenigstens habe ich die Fotos von früher in meiner Wohnung. Wenn ich mich sehr einsam fühle, rede ich manchmal mit den Bildern. Man wird ja schnell für bekloppt gehalten, wenn man mit sich selbst redet. Aber wenn ich mit einem meiner Bilder spreche, dann ist da immer noch ein Gegenüber. Die Antwort kann ich mir ja selbst denken. Trotzdem verliert man die Lust am Leben, wenn man über Monate und Jahre allein ist. Ich bin christlich, aber manchmal denke ich an Selbstmord. Ich weiß, dass das keine Lösung ist. Manchmal weine ich dann. Ich bin jetzt 90 und eigentlich denke ich, es sollte auch mal gut sein.

    Protokoll: Christopher Resch

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    »OFT MUSS ICH TAGELANG WEINEN«
    Richard B., 31, Kinderpfleger

    s scheint das Thema meines Lebens zu sein, dass ich mit dem Alleinsein zurechtkommen muss. Ich hatte noch nie viele Freunde. Auch meine Mutter und mein Bruder waren mir nie richtig nah. Dann ging im Januar meine Ehe kaputt und der neue Freund meiner Frau zog zu uns in die Wohnung. Ich habe auf die Schnelle kein neues Zimmer gefunden, deshalb wohnten wir zu dritt. Als dann im Sommer auch noch mein Vater nach langer Krankheit starb, hatte ich von einem Tag auf den anderen keinen Menschen mehr, mit dem ich hätte reden können. Ich wurde depressiv. Schon die kleinsten Dinge waren für mich riesige Herausforderungen: Einkaufen zu gehen bedeutete für mich einen Kraftaufwand, als ob ich einen Viertausender besteigen müsste. Oft lag ich tagelang mit Weinkrämpfen im Bett. Ich hatte das Gefühl, in meiner Ehe versagt zu haben, und schaffte es nicht, mich allein aus dieser Stimmung zu befreien. Noch in derselben Wohnung mit meiner Frau und ihrem neuen Partner leben zu müssen, war für mich so eine Qual, dass ich deshalb vor ein paar Wochen in die Nachtklinik des Atriumhauses in München gegangen bin. Hier können Menschen, die Hilfe brauchen, eine Weile wohnen und werden von Therapeuten betreut. Ich hätte nicht gewusst, wo ich sonst hingehen soll. Die letzten Jahre konzentrierte ich mich so sehr auf meine Ehe und den Job, dass ich mich nicht um neue Freundschaften bemüht habe. Die fehlen mir jetzt. Hier in der Klinik bin ich auch allein, obwohl normalerweise bis zu acht Patienten in einer Art Wohngemeinschaft zusammenleben. Aber seit ich hier bin, gibt es nur mich und die Therapeuten. Die Gespräche mit ihnen tun mir gut. Trotzdem fehlt jemand, der mich einfach mal in den Arm nimmt.

    Es klingt komisch, aber: Das Essen ist zurzeit mein einziger Freund. Ich hab so zugenommen, dass mir meine Hemden nicht mehr passen. Egal, ich hab sie heute alle gewaschen und gebügelt. Das verdrängt die Leere für den Moment. Und es tut mir gut zu sehen, dass mir etwas gelingt. Ich weiß, dass ich kein einfacher Mensch bin, ich mache mir zu viele Gedanken über das Leben und über mich. Ich zweifle auch viel an mir und bin manchmal sehr unsicher. Bei jeder noch so kleinen Entscheidung frage ich mich: Handle ich richtig oder nicht? Wie auch jetzt mit dem Interview. Soll ich es machen? Mache ich es gut? In einem Augenblick fühle ich mich stark genug und im nächsten verlässt mich der Mut. Das war früher nicht so, da war ich viel selbstsicherer: Ich zog kurz entschlossen von Ingolstadt nach München, weil meine Freundin hier lebte. Und eigentlich bin ich Groß- und Einzelhandelskaufmann, aber als ich merkte, dass ich mit Kindern gut umgehen kann, machte ich noch eine Ausbildung als Kinderpfleger. Obwohl das eigentlich ein Frauenberuf ist. Aber zu mir passt er, weil ich viel Geduld habe und sehr genau, fast langsam bin. Das war schon in der Schule so, da lief ich nach dem Klingeln immer als Letzter aus dem Klassenzimmer, weil ich vorher immer noch eine Frage an die Lehrerin hatte. Diese Zeit nehme ich mir heute für jedes einzelne Kind. Aber im Moment bin ich krankgeschrieben. Ich liebe meinen Beruf. Am Wochenende sitze ich oft da und überlege mir Geschichten, die ich den Kindern erzählen kann. Der Gedanke, vielleicht bald wieder zu arbeiten, tut gut.

    Ich hätte selbst gern ein Kind, am liebsten eine Tochter. Aber dafür fehlt mir jetzt die Frau. Mit Kindern kann ich manchmal besser umgehen als mit Erwachsenen. Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert, um Freunde zu finden. Aber bis jetzt hat noch nichts funktioniert, weder in Diskos noch über Annoncen, auf die ich geantwortet habe. Ich habe den Leuten auf den Anrufbeantworter gesprochen oder ihnen geschrieben, aber es meldet sich nie jemand zurück. Mir fällt es auch schwer, Small Talk zu machen. Ich suche eben Menschen, mit denen ich sogar noch auf der Toilette tiefsinnige Gespräche führen kann. Hier in der Klinik habe ich jetzt eine Frau kennen gelernt. Ich weiß noch nicht, ob sie mich mag. Ich habe große Angst, dass ich ihr zu anstrengend bin. Aber ich muss Geduld haben, verkrampft funktioniert das nicht. Wenn es mir sehr schlecht geht und ich nichts habe, was mich ablenkt, höre ich tiefsinnige Musik wie Depeche Mode. Das baut mich wieder auf. Ich übersetze die Texte und singe dazu. Dann fühle ich mich verstanden.

    Protokoll: Sabine Streitel

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    »ICH HABE ANGST VOR WEIHNACHTEN«
    David Mamunz, 17, Schüler

    Alles, was ich über Weihnachten weiß, habe ich beim SOS-Kinderdorf gelernt. Zwei Jahre durfte ich da wohnen. Es gab einen Adventskranz mit Kerzen und einmal habe ich sogar ein Geschenk bekommen: eine Stereoanlage, für die alle Betreuer zusammengelegt hatten – Wahnsinn! Das erste Geschenk meines Lebens! Jetzt bin ich für das Kinderdorf zu alt und lebe allein in einer Wohnung, die das Jugendamt bezahlt. Wir waren fast so etwas wie eine Familie, acht Jugendliche und unsere Betreuer. Wir haben uns zusammen unterhalten und abends gemeinsam gegessen. Heute rede ich eigentlich mit keinem wirklich lang, außer mit meinem Betreuer. Weihnachten werde ich dieses Jahr nicht so schön feiern. Ehrlich gesagt, habe ich ziemlich Angst davor. Es wird wohl das Letzte sein, das ich in dieser Wohnung feiern darf. Fünf Tage nach Weihnachten werde ich 18 Jahre alt. Dann muss ich wahrscheinlich ausziehen und in ein Asylbewerberheim.

    In Deutschland lebe ich jetzt seit fast vier Jahren. Ich bin mit ungefähr 14 Jahren hierher gekommen. Mein genaues Alter kenne ich nicht. Eine Frau hat mich während des Krieges zwischen Armenien und Aserbeidschan auf der Straße gefunden, da muss ich ungefähr drei Jahre alt gewesen sein. Sie hat beobachtet, wie meine Mutter, eine Armenierin, und mein Vater, ein Aserbeidschaner, erschlagen wurden. Die Frau wurde meine Pflegeoma, der Tag, an dem ich gefunden wurde, mein Geburtstag: der 29.12.1987. Ich habe nichts von meinen Eltern, kein Andenken, kein Foto. Dann starb meine Pflegeoma. Ihr Sohn holte mich zu sich nach Russland, aber ich war eine Last für ihn. In Russland habe ich schlimme Dinge erlebt, die Erwachsenen haben getrunken und mich geschlagen. Ich bin dann nach Deutschland geflüchtet, mit Fremden in einem Auto.

    Als ich in der Kinderaufnahmestelle angekommen bin, war das wie in einem Film: Es gab ein Bett und einen Kühlschrank, mit Joghurt und Saft darin. Zur Schule gehe ich erst, seit ich in Deutschland lebe. In Armenien und Russland konnte ich die Schule nicht besuchen, weil ich keinen Pass besitze. Ich habe noch nie einen Pass besessen. Hier durfte ich sogar meinen Quali machen, den ich mit einer Zwei geschafft habe. Wenn man lernt, geht alles. Gerade absolviere ich ein BGJ, ein Berufsgrundschuljahr für den Beruf als Schreiner. Das BGJ hab ich auch gut geschafft: den praktischen Bereich mit Eins. Es gab sogar einen Betrieb, der mich ausbilden wollte – aber weil ich keine Arbeitsgenehmigung bekam, konnte ich die Ausbildung nicht machen. Am liebsten würde ich als Dachdecker, Zimmerer oder Schreiner arbeiten, irgendwas mit Holz. Aber das geht nicht.

    Also versuche ich, Fußballer zu werden. Das ist meine einzige Chance, hier bleiben zu dürfen. Ich gebe alles dafür. Jeden Tag nach der Schule trainiere ich beim FC Feucht, fünfmal pro Woche. Ich spiele in der Bayernliga, A-Jugend, Abwehr. Dafür trainiere ich in jeder freien Sekunde: Dann mache ich Fitness zu Hause oder laufe im Park. Mein Trainer unterstützt mich. Vielleicht kann ich hier bleiben, wenn ich für einen Profiverein spiele. Wenn ich abgeschoben werde, habe ich keine Chance. In Armenien oder in Russland kenne ich niemanden.

    Später will ich eine richtige Familie haben, mit Frau und Kindern und Glück. Ich gehe oft in die Kirche und bete, obwohl ich gar nicht weiß, ob ich getauft bin. Ich bete für meine Pflegeoma, meine Eltern, für Frieden. Und für eine Zukunft. Ich weiß nicht, ob ich noch zur Schule gehen oder Fußball spielen kann, wenn ich im Asylbewerberheim wohne. Ob die Leute auf dem Zimmer Rücksicht nehmen, wenn ein Junge um elf Uhr schlafen geht, weil er in die Schule muss oder am nächsten Tag ein Spiel hat? Von den 345 Euro, die ich monatlich vom Jugendamt für Strom und Essen bekomme, habe ich immer was für Fußballschuhe gespart. Dieses Geld kriege ich im Asylbewerberheim auch nicht mehr. Dann spiele ich mit meinen alten Schuhen. Irgendwie schaff ich das. Ich hab bis jetzt ja auch nicht viel gehabt. Eigentlich wünsche ich mir nichts. Halt, doch: Ich würde gern einen Pass besitzen. Eigentlich ist das ja nur ein Papier. Aber es bedeutet Freiheit und Leben. Und dass man ein ganz normaler Mensch sein kann, wie alle anderen auch.

    Protokoll: Kerstin Greiner

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    »JETZT IST AUCH NOCH MEIN FERNSEHER KAPUTT«
    Walter Merkl, 66, Rentner

    Im Wirtshaus haben mir früher immer alle zugehört, bei der Arbeit und daheim auch. Wenn ich eines kann, dann lustig daherreden. Ein Geschichtenerzähler war ich, jawohl. Aber ich wollte immer frei sein, leben wie ein Wandervogel. Mich nie fest binden: nicht an eine Frau, nicht an einen Beruf und nicht an einen Ort. Das habe ich jetzt davon: Ich bin allein und nirgends mehr zu Hause. Ohne Freunde und ohne Familie. Meine Brüder und meine Mutter sind schon lange tot, meinen Vater habe ich nicht gekannt, der ist in Stalingrad geblieben. Die Mutter wollte auch nicht, dass wir mit Vaters Geschwistern Kontakt haben, »die bucklige Verwandtschaft braucht ihr nicht zu kennen, die taugt nichts«, hat sie gesagt. Na ja, und ich habe keine Frau und Kinder. Das hat nicht sollen sein. Einmal war ich mit einem Mädel länger zusammen, einer Metzgereiverkäuferin. Ein halbes Jahr bin ich mit der gegangen, dann war Schluss. Jetzt, nach vier Schlaganfällen, ist es für mich nicht mehr so leicht, fremde Menschen kennen zu lernen.

    Eigentlich bin ich nur mehr am Mittwoch in Gesellschaft, beim Schafkopfnachmittag vom Sozialamt. Wer mit mir am Tisch sitzt, dem gefällt es jedenfalls, meine Sprüche kommen noch an. Ich rede halt, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Sonst spreche ich nur mit Leuten, wenn ich einen Nachbarn bei mir im Haus treffe oder wenn sich jemand auf einer Parkbank neben mich setzt. Aber dann wechselt man ja nur ein paar Worte, übers Wetter oder so, und manche wollen sich gar nicht mit Fremden unterhalten. Das verstehe ich zwar nicht, aber was will man machen?

    Die Mutter schimpfte mich oft einen Haderlumpen und einen Taugenichts, weil ich nichts Festes hatte. Ich schlug mich eben so durch, als Dachdecker, Kanalarbeiter und Kartenabreißer, räumte Raubtierkäfige im Zirkus aus und kontrollierte in der Brauerei die Abfüllung. Sogar Stallbursche war ich schon, das war nicht schlecht, da bekamen wir jedes Mal 25 Mark extra, wenn wir bei der Geburt eines Fohlens geholfen haben. Am längsten blieb ich bei den Pflasterern im Straßenbau: neun Jahre, bis zu meinem ersten Schlaganfall 1991. Danach konnte ich die schwere Arbeit nicht mehr machen.

    Freilich hat es mir irgendwann Leid getan, dass ich allein war, aber in mein Dorf konnte ich irgendwann nicht mehr zurück. Da hätte ich mich geschämt. Die hätten dann wissen wollen, was ich die ganze Zeit gemacht habe.

    Den Erwin, meinen älteren Bruder, sah ich jahrelang gar nicht, erst wieder, als er schon bewusstlos an den Schläuchen im Krankenhaus hing. Den Heinzi, meinen jüngeren Bruder, habe ich vor seinem Tod gar nicht mehr gesehen. Mein Gott, ich hätte so viel anders machen sollen im Leben, aber jetzt ist es zu spät. Mir wird es so gehen wie meiner Mutter: Da war keiner außer mir bei der Beerdigung. Ein paar alte Weiber sind noch hinter dem Sarg hergelaufen, aber die haben die Mutter gar nicht gekannt. Die waren nur so da, weil es was zum Schauen gab.

    Im Winter ist die Einsamkeit am schlimmsten, weil ich kaum mehr aus meiner Wohnung rauskomme. Wenn es warm ist, bin ich beweglicher, ein bisschen Fahrrad fahren geht noch. Unterwegs suche ich oft Brombeeren, die kann ich im Haus verkaufen, das bringt ein bisschen Geld. Oder ich verschenke sie, ist halt ein Zeitvertreib.

    Früher bin ich gern mit dem Roller herumgefahren, ich hatte mal einen richtig schönen, einen Piaggio. Und mit Hunden von Bekannten bin ich gern spazieren gegangen. Den Jacques, den Cockerspaniel vom Fräulein Schoiderer aus dem Harthof, hab ich acht Jahre lang Gassi geführt, bis er starb.

    Jetzt, im Winter, schaue ich fast nur noch fern, vor allem Dokumentationen. Gestern lief eine über Wasserwege, das war sehr interessant. Ich konnte sie aber nicht zu Ende sehen, weil mein Bildschirm finster wurde. Das Gerät war schon ein bisschen kaputt, als ich es mir vom Sperrmüll holte, aber jetzt hat es wohl endgültig den Geist aufgegeben. Ein neues kann ich mir nicht leisten, meine Rente von 685 Euro reicht gerade mal für Miete und Essen. Dabei ist der Fernseher in der kalten Zeit für mich doch das einzige Fenster zum Leben.

    Protokoll: Bastian Obermayer

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    »OB MEIN BRUDER WEISS, DASS ICH IM OBDACHLOSENHEIM WOHNE?«
    Waltraud Maushammer, 62, Putzhilfe

    Der Tag im Februar, der mein Leben verändert hat, beginnt wie jeder andere: Um sieben setze ich Kaffee auf, um meine Beine schmiegen sich meine geliebten Katzen, um acht muss ich zur Arbeit. Seit 1998 bin ich Putzhilfe in einem Nordsee-Restaurant. Ich will nicht zu spät kommen, haste die Treppen hinunter, da rutsche ich auf einer Stufe aus. Ich fühle, wie es in meinem linken Winterstiefel wärmer wird, auch feuchter. Der Stiefel färbt sich innerhalb von Sekunden rot. »Hilfe, ich blute! Hilfe!«, schreie ich. Ein Nachbar ruft den Notarzt, der schneidet den Schuh auf: offener Knöchelbruch. Ich werde noch am selben Morgen operiert.

    Aber es kommt alles noch schlimmer. Vier Wochen nach der Operation – ich liege immer noch im Krankenhaus – wird mir mein Appartment vom Sozialamt gekündigt. Einfach so. Ich kenne bis heute nicht den Grund! Angeblich soll ich die Wohnung nicht sauber gehalten haben. Dabei bin ich doch Putzfrau! Ich vermute, man wollte mich wegen der Katzen raus haben. Im Krankenhaus liege ich nachts wach, schlafe kaum.

    Heute wohne ich in einem Obdachlosenheim. Während der sechs Wochen im Krankenhaus hat mich nur meine Arbeitskollegin Bettina besucht. Sie hat mir einen hübschen Strauß Blumen gebracht und eine gelbe Karte mit Gänseblümchenmuster und den Unterschriften meiner Kollegen. Ich habe diese Karte immer noch. Manchmal öffne ich sie und lese laut: »Wir hoffen, dass du bald wieder bei uns bist! Gute Besserung, Waltraud!« Nordsee hat mir bisher nicht gekündigt. Aber ich stecke in diesem Teufelskreis fest: Zurzeit streiten sich die Versicherungen immer noch, ob mein Ausrutscher auf der Treppe ein Arbeitsunfall war, oder nicht. Solang das nicht geklärt ist, darf ich nicht zur Reha gehen. Weil ich nicht zur Reha gehen kann und Schmerzen habe, kann ich nicht arbeiten. Weil ich nicht arbeiten kann, bekomme ich keinen Lohn. Weil ich keinen Lohn bekomme, kann ich mir keine eigene Wohnung leisten.

    Familie? Freunde? Ich habe nie geheiratet und bin 62 Jahre alt. Meine Mutter war meine einzige echte Freundin. Sie ist 1989 gestorben, sie fehlt mir sehr! Mit meinem Bruder habe ich seit Mamas Beerdingung kein Wort mehr gesprochen. Der war nur auf ihr Erbe aus, hat sie nie besucht als sie pflegebedürftig war. Ob er weiß, dass ich in einem Obdachlosenheim wohne? Ich glaube nicht.

    Viele meiner Freunde sind in den vergangenen Jahren gestorben, geblieben ist nur Walter. Er hat mich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus in seine 35-Quadratmeter-Wohnung aufgenommen. Aber wir standen uns nur gegenseitig auf den Füßen. Eines Abends hat er mich nach einem kleinen Streit rausgeschmissen. Ich wollte zuerst nicht gehen, wohin auch? Er rief die Polizei. Also irrte ich die ganze Nacht durch München und stand morgens wieder bei ihm vor der Tür. Aber er hat mich nicht reingelassen. Richtige Freunde machen so etwas nicht, oder?
    Noch am selben Tag bekam ich – Gott sei Dank – einen Platz im »Haus Agnes«, das ist eine Obdachlosen-Unterkunft für Frauen. Ich würde gern nächstes Jahr wieder arbeiten können. Aber in meinem Fuß steckt immer noch diese Metallschiene. Die sollte eigentlich während der Reha raus genommen werden. Wenn es kalt wird, spüre ich sie wie ein kaltes Messer. Walter hat sich mit vielen Anrufen und einem Blumenstrauß bei mir entschuldigt. Ob ich mit ihm Weihnachten verbringe? Ich weiß nicht. Aber ich habe ja sonst niemanden.

    Protokoll: Alexandros Stefanidis

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    »DIE ZEIT VERGEHT UND ICH VERSUCHE, NICHT WAHNSINNIG ZU WERDEN«
    Amritpal Kaur, 34, Asylbewerberin aus Indien

    Mein Sohn hat mir ein Bild gemalt, er lebt in Indien und schickte es nach Deutschland: viele grüne Wiesen, Bäume, Sträucher und ein Haus: unser Haus, in Gagrewal, Punjab. Das Bild wärmt mein Herz, ich schaue es mir oft an. Man sagt, Grün sei die Farbe der Hoffnung. Etwas, das ich nur noch selten spüre. Zurzeit lebe ich bei einer deutschen Familie in der Nähe von Tübingen, in einer Kammer unter dem Dach, ein Bett, ein Schrank, ein Tisch. Diese Deutschen haben mich aufgenommen, weil die Männer in meinem Asylbewerberheim mich belästigten; ich lebte auch in Angst vor meinen Landsmännern – allein stehende Frauen gelten nichts bei ihnen.

    Ich bin eine Sikh, das ist eine unterdrückte Minderheit, die in Indien um ihre Freiheit kämpft. Auch ich kämpfte mit Worten, nicht mit Waffen. Polizisten verschleppten meinen Bruder Manjinder, er ist einer von 2097 Verschwundenen in Amriza, sein toter Körper wurde nie gefunden. Ich versuchte an die Öffentlichkeit zu bringen, was geschehen war. Den Hindi gefiel das nicht: Zwischen 1991 und 2004 kamen nachts oft Polizisten in das Haus, in dem ich mit meiner Mutter, den Kindern und meinen jüngeren Schwestern lebte. Sie prügelten uns mit Knüppeln und Gewehren, meine Kniescheibe zersplitterte; sie rissen uns die Kleider vom Leib, taten uns Gewalt an. »Dir geschieht, was Deinem Bruder geschah«, drohten sie mir. Ich bangte um mein Leben. Weil mein Mann es mir befahl, verließ ich Indien und meine beiden Kinder Jaspet, 12, und Jasminda, 15.

    Am 25. Juli 2004 erreichte ich Stuttgart und bat um Asyl. Der Richter des Verwaltungsgerichts in Sigmaringen lehnte meinen ersten Asyl-Antrag ab. Er sagte, ich solle die alte Geschichte ruhen lassen, es gäbe eine inländische Fluchtalternative: »Warum leben Sie nicht in Neu-Dehli im Untergrund?« fragte er. Wie soll das gehen, allein, als entehrte Frau in Indien? Mein Mann hatte mich doch verstoßen, weil ich so viel Ärger über die Familie gebracht hatte!

    Manchmal bin ich zornig, weil mir keiner zuhört: nicht die indische Polizei, nicht die deutschen Behörden. Dann gehe ich viel spazieren, über die Felder und im Wald, auch wenn mein kaputtes Knie schmerzt, ich muss laufen, viel laufen, um klar denken zu können. Ich habe gegen das Urteil Einspruch eingelegt, jetzt warte ich. Die Unsicherheit lässt mein Herz rasen, ich schlafe kaum noch. »Je länger es dauert«, sagt der Rechtsanwalt, »desto besser sind die Aussichten.« Die Zeit vergeht und ich versuche, nicht wahnsinnig zu werden. Seit Januar lerne ich jeden Nachmittag deutsch in der evangelischen Kirche in Tübingen. Ich möchte endlich ankommen in Deutschland und etwas Sinnvolles tun: Gerne wäre ich Krankenpflegerin. Doch niemand will mich ausbilden, weil keiner weiß, wie lange ich noch hier bin. Nirgendwo scheint Platz für mich zu sein. Seit 14 Jahren. Ich habe keine Erde unter den Füßen, keinen Himmel über dem Kopf.

    Protokoll: Mareike Fallety

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    »DIE LEUTE WOLLEN NICHT, DASS ICH ÜBER MEIN KRANKES KIND SPRECHE«
    Hussein Morsalli, 49 Jahre, arbeitslos

    Das Gefühl, dass mir jemand zuhört, kenne ich nicht mehr. Eigentlich unterhalte ich mich nur noch in Chatrooms im Internet. Da kann ich wenigstens reden, alles rauslassen, was sich in mir so angesammelt hat. Aber ich kenne die Gesichter der Menschen nicht, die meine Einträge lesen. Ich weiß nicht, wie sie wirklich auf meine Geschichte reagieren, weil sie mir nicht in die Augen schauen. Ich lebe jetzt seit 25 Jahren in Deutschland. Die ersten Jahre waren schön, aber seit zehn Jahren ist alles anders. Mein Sohn bekam im Alter von zwei Jahren plötzlich epileptische Anfälle, die sein Gehirn so schwer schädigten, dass er nie mehr ohne fremde Hilfe leben kann. Vom einen auf den anderen Tag hatten meine Frau und ich plötzlich ein schwer behindertes Kind, das kaum sprechen kann. Meine Frau hatte selbst psychische Probleme und es wurde ihr alles zu viel. Da hat sie uns verlassen.

    Ich musste mein Restaurant und die zwei persischen Lebensmitteläden aufgeben, damit ich mich ganz um meinen Sohn kümmern konnte. Wir Perser sind sehr stolz, und ich wollte meinen Bekannten aus der Heimat nicht erklären, dass meine Frau nicht mehr da ist und ich kaum mehr Geld verdiene. Das hat mein Leben in München unmöglich gemacht. Wir haben einen Koffer gepackt und sind nach Köln gezogen. Seitdem bin ich immer bei meinem Sohn, aber wir haben Probleme, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Die Leute haben oft Schwierigkeiten mit ihm, sie wollen sich lieber mit mir allein treffen, aber das geht für mich nicht. Mein Sohn und ich gehören zusammen, ich liebe ihn sehr. Getrennt gibt es uns nicht mehr.

    Manchmal lade ich meine Nachbarn ein und koche für sie, aber ich merke, dass keine normale Beziehung zustande kommt. Sie wollen nicht, dass ich über mein Leben, mein krankes, aber trotzdem fröhliches Kind spreche. Ich bräuchte jemanden, mit dem ich reden kann. Vor ein paar Tagen hat sich auch noch eine Bekannte wegen ihres behinderten Kindes umgebracht. Das hat mich sehr mitgenommen. Zu sehen, wie sich ein Mensch das Leben nimmt, nur weil das Kind nicht gesund ist. Ich hätte das gern verhindert, aber sie hat sich mir nicht anvertraut. Jetzt verlasse ich meine Wohnung kaum noch. Mein Sohn musste für drei Monate in ein Heim, weil er in der Schule Wutausbrüche bekam. Dieses Heim ist wie eine Spezialschule für behinderte Kinder, wo sie lernen, ihre Gefühle zu kontrollieren.

    Immer wenn ich so allein bin, sitze ich in meiner Küche, weil es der einzige Raum ist, der zur Straße führt. Früher hielt ich die Fenster immer geschlossen, weil ich den Lärm nicht aushielt. Heute lasse ich sie absichtlich offen, damit ich die Stimmen der Leute höre. Dann habe ich das Gefühl, dass jemand da ist.

    Protokoll: Sabine Streitel

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    »DAS ALTENHEIM IST DIE ENDSTATION«
    Ellen Reuter, 82, Rentnerin

    Ich vermisse meine Abendgesellschaften. Ich hatte einen sehr großen Freundeskreis und alle kamen sehr gern zum Essen zu mir nach Hause. Angeblich hat es ihnen auch immer geschmeckt. Das waren wunderbare Abende, Kerzenlicht, klassische Musik und Gespräche bis spät in die Nacht.

    Heute unterhalte ich mich mit meinen Tischnachbarn im Altenheim. Zumindest so lang wir zusammen sitzen und essen. Dann reden wir meistens über früher. Unser Alltag hier ist ja nicht sonderlich spannend. Je älter die Menschen werden, desto mehr sprechen sie über die Vergangenheit. Nach dem Essen geh ich dann wieder auf mein Zimmer. Lese und schaue fern.

    Seit drei Jahren lebe ich hier, ganz allein. Meine eigene Wohnung konnte ich nicht mehr bewirtschaften, ich habe Diabetes und Asthma, brauche dauernd ärztliche Betreuung. Meine Schwester wohnt in Bonn, wir telefonieren immerhin manchmal. Mehr Familie habe ich nicht, ich habe nie geheiratet. Obwohl ich verlobt war. Als mein Verlobter damals in den Krieg zog, ging er mit dem Versprechen, dass wir heiraten, wenn er wieder kommt. Er ist aber nicht wieder gekommen. Stalingrad hat ihn behalten.

    Danach wollte ich mich nicht wieder binden. Die Angst, noch einmal jemanden zu verlieren war zu groß. Warum sollte ich auch etwas Neues anfangen? Meine große Liebe hatte ich gefunden und verloren, geblieben waren mir viele Freunde, das genügte. Ich hatte auch einen spannenden Beruf: Ich leitete bei »Schneekluth«, einem Belletristik-Verlag, die Herstellungsabteilung. Wir produzierten Kinderbücher, Tierbücher und Romane. Eine Zeit lang hatten wir sogar den Konsalik und die Uta Danella bei uns. Außerdem bin ich viel gereist, nach New York, Florida, China, Indonesien, Nordafrika und in fast alle europäischen Länder. Manches fehlt mir noch, Skandinavien zum Beispiel. Aber heute bin ich natürlich zu alt und nicht mehr gesund genug.

    Man kann sagen, dass ich hier festsitze. Das Heim ist die Endstation, man kommt nur raus, wenn man stirbt. Dieser Gedanke macht mich traurig. Wenn ich daran denke, geht es mir schlecht. Manchmal rede ich dann mit den Schwestern. Aber das ist natürlich nicht dasselbe, als wenn man mit jemanden spricht, den man wirklich gut kennt.

    Protokoll: Bastian Obermayer

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