Eine Stadt auf Crack, die sich treiben lässt

Tel Aviv war für unsere Kolumnistin immer ein Sehnsuchtsort. Doch den Versuch, dort zu leben, musste sie nach einigen Monaten wieder abbrechen. Eine Liebeserklärung an die anstrengendste und schönste Stadt der Welt.

Leider ist dieses Bild nicht in Tel Aviv entstanden, sondern in Berlin. 

Foto: Alexa Vachon

Noch bevor ich bewusste Erinnerungen an Tel Aviv hatte, erzählte mir meine Mutter vom »Blaumilchkanal«. So heißt eine satirische Geschichte von Ephraim Kishon über den aus dem Irrenhaus entflohenen Kasimir Blaumilch, der wie ein Geisteskranker die Allenby-Straße in Tel Aviv mit einem Presslufthammer aufreißt und und einen Kanal Richtung Meer gräbt. Am Ende erreicht er das Meer und macht aus Tel Aviv, wie es Kishons fiktiver Bürgermeister nennt, ein »Venedig des Nahen Ostens«. Als junges Mädchen verstand ich weder den Kontext der Geschichte noch die vielen Andeutungen über die israelische Gesellschaft. Doch Tel Aviv blieb in meiner Vorstellung immer die Stadt mit dem blauen Fluss.

Meine Mutter verbrachte einen Großteil ihrer Kindheit in Israel, die ganz frühen Jahre in Tel Aviv, genauer gesagt in Florentin, einem bis vor wenigen Jahren noch ärmlichen Stadtteil, der heute von Hipstern und Künstlern wiederbelebt wird. Von dort aus spazierte sie an der Hand meiner Urgroßmutter oft zu jener Allenby-Straße, die auch heute noch im Sommer immer ein wenig nach Katzenpisse und Benzin stinkt. Viele Jahre später in Köln, als ich alt genug war, allen Details zu folgen, erzählte meine Mutter immer wieder von ihrem Leben in Israel. Und ich sah sie vor meinem inneren Auge als junge Frau mit ihren braunen Locken über den Bürgersteig durch blaues Wasser flanieren. In meiner Version drehten sich auf jedem Meter braun gebrannte Männer nach ihr um und luden sie auf eine Zitronenlimonade ein. Aus ihrem Mund klang dieser Fleck Erde wie ein Ort, in dem Blaumilch und Honig flossen. Tel Aviv wurde zum Ort meiner Träume.

Anders als ich, die in ihrem deutschen Leben oft die Kontrolle behalten möchte, hat Tel Aviv schon vor Jahrzehnten verinnerlicht, dass das Leben lacht, während wir Pläne machen.

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Als Teenager reiste ich erstmals alleine mit meinen Freunden nach Israel. Ich suchte das Blaumilch-Tel-Aviv aus den Erzählungen meiner Mutter. Und ich fand etwas, das man auf Hebräisch »Lisrom« nennt. Der Strom dieser Stadt schien alles aufzulösen: Meine angeborene Melancholie, die Angst vor dem Ungewissen, die vielen Sorgen, die ich mit mir herumtrug. Lisrom könnte man übersetzen mit »sich vom Strom treiben lassen«. Doch anders als bei uns, wo sich jene, die mit dem Strom schwimmen, dem Mainstream unterwerfen, bezeichnet Lisrom die nonchalante und notwendige Art, dem oft unberechenbaren Alltagsleben in Nahost mit Vertrauen statt mit Angst zu begegnen und darauf zu bauen, dass es schon irgendwie laufen wird. Lisrom: So geben Tel Aviver ihr oft knappes Geld aus, so erziehen sie ihre Kinder, so lieben sie. Denn anders als ich, die in ihrem deutschen Leben oft die Kontrolle behalten möchte, hat Tel Aviv schon vor Jahrzehnten verinnerlicht, dass das Leben lacht, während wir Pläne machen.

Tel Aviv ist auf Sand gebaut. Wo vor 80 Jahren ein paar Bretterbuden und einzelne Häuser standen, lebt und steht heute ein eklektischer Mix aus Menschen und Gebäuden. Es riecht nach Oleander, Fritteuse und abgestandenem Klimaanlagenwasser, und nicht selten kommt es vor, dass man zwischen einer jungen Soldatin, einem halb nackten Radfahrer und einer Holocaustüberlebenden an der Fußgängerampel zum Stehen kommt. Juden aus Mitteleuropa, Nordafrika und arabischen Ländern, eine große LGBT-Gemeinde, eine Handvoll Orthodoxe und linke Lebenskünstler – sie alle bevölkern auf engem Raum diesen »Hügel des Frühlings«, was Tel Aviv übersetzt bedeutet.

Vor einigen Wochen lag ich wieder am Strand von Tel Aviv. Neben mir saßen junge Paare. Sie rauchten, hörten billigen Pop aus Lautsprechern und tranken Alcopops, während die Mittelmeersonne meine Berliner Blässe langsam verschwinden ließ. Körperlich war ich schon in Tel Aviv, in meinem Kopfkino lief jedoch weiterhin die Tagesschau: Klimawandel, Mietwucher, AfD. Wie immer dauerte es drei, vier Tage, ehe ich bereit war für Lisrom; bereit war, in Tel Avivs blauer Milch zu baden und nicht im Sog meiner Gedanken unterzugehen. 

Sobald man eine emotionale Verbindung zu diesem irren Ort aufbaut, kann sich ein Tag wie das schnelle Abreißen eines Pflasters anfühlen; und schon der darauffolgende fühlt sich an wie die einzigartige Umarmung einer liebenden Großmutter, in deren Armen man verweilen möchte. Alles in dieser Stadt ist so viel intensiver als meine persönlichen Befindlichkeiten. Und so versuche ich, diese bei jedem Besuch nach und nach abzuwerfen wie Sandsäcke von einem Heißluftballon. Ohne diesen Ballast fühle ich mich so leicht, dass ich mich eigentlich eher auf dem Strom als im Strom treiben lassen kann.

Für Außenstehende, eigentlich für alle, die noch nie in Tel Aviv waren, mag das zynisch klingen. Wie kann man sich in einer Stadt, die mitten in einem Gebiet liegt, das mehr Krieg als Frieden erlebte, überhaupt entspannen, loslassen und sich treiben lassen? Auf diese Frage gibt es in meinen Augen keine mitteleuropäische Ohren zufriedenstellende Antwort. Tel Aviv ist ein Ort, an dem Frieden das Ziel und Überleben der Weg ist. Und alles, was dazwischen geschieht, ist Existenz auf Crack. Höher, schneller, weiter, intensiver. Lisrom ist ein Instinkt, vielleicht sogar der Überlebensinstinkt einer ausschließlich im Jetzt lebenden Gesellschaft, die weder Zeit noch Nerven für Bausparverträge und Sparkonten hat. Und ab und zu brauche ich das, brauche ich den Strom, an dessen Quelle ich meine Gedanken ruhen lassen kann.

2008 verließ ich Köln und zog nach Tel Aviv. Mit dem Vorhaben, für immer dortzubleiben. Doch erst mit dem One-way-Ticket in der Hand wurde mir richtig bewusst, dass zwei Seelen in meinem Körper leben. Eine, die jauchzend mit einer Arschbombe in die Blaumilch der Allenby sprang. Die andere, die sorgenvoll am Rand stand und sich fragte: Was könnte, was würde, was wäre? Kaum zehn Monate später gab ich auf und fühlte mich besiegt. Überrannt vom Strom, der aus der Ferne wie eine homogene Masse wirkt und erst aus der Nähe offenbart, wie hart man strampeln muss, um nicht abzusaufen. Denn natürlich ist in Tel Aviv nicht alles Friede, Freude, Falafel: Sie ist auch eine Stadt der Einzelkämpfer. Sie ringen in dieser immer teurer werdenden Metropole ums Überleben und suchen ihren Platz in einer von  Extremen geprägten Gesellschaft. Daher ist Lisrom nicht einfach die Kapitulation vor der Unberechenbarkeit, sondern auch das Bad in einer Menge, mit der man immer mitlaufen muss, egal in welche Richtung sie gerade unterwegs ist.  So konnte ich mir meine Zukunft nicht vorstellen.

Am letzten Abend meiner jüngsten Tel-Aviv-Reise trafen wir uns in einer Seitenstraße der Allenby mit Freunden zum Essen. Ich fühlte mich wie immer kurz vor der Abreise melancholisch, weil ich das gerade erst verinnerlichte Lisrom wieder einmal an der Gepäckaufgabe am Flughafen Tel Aviv zurücklassen würde. Während ich meine Trauer in starkem Rotwein ertränkte, erzählte mir meine Freundin, die als Autorin und Journalistin in Tel Aviv arbeitet, dass sie sich für ein Interview mit dem berühmten isrealischen Fischkoch Uri Buri getroffen hatte, der in der Hafenstadt Akko ein Restaurant betreibt. Uri sieht aus wie der alte Mann aus Hemmingways Der alte Mann und das Meer, dessen Gesichtsfurchen die Lebenserfahrung eines ganzen Volkes innewohnt. Ich weiß nicht, wieso sie gerade jenen Satz aus dem Interview wiedergab, aber im Gespräch hatte Uri gesagt: Nicht der Weg ist das Ziel, sondern der Weg ist schlicht der Weg. Ohne Ziel.

»Wo wollen wir jetzt noch hin?«, fragte jemand nach dem Essen in die Runde.
»Ani soremet«, ich gehe mit dem Strom, antwortete ich ein letztes Mal.