Das Unheil war noch jung, ein paar Flecken Lila auf dem Lagebild des Wetterradars, weit im Westen. An den Alpen glühten aber grüne Pünktchen. Gewitter. Georg Vogl, der Bereitschaft hatte, rief den Wetterdienst an.
Sie schätzen Meteorologen nicht sonderlich bei der Hagelabwehr Rosenheim. Meteorologen beobachten das Wetter und versuchen es vorherzusagen. Hagelflieger versuchen es zu verändern. Sie sind zwei Brüder im Streit. Manchmal nennen die Hagelflieger die Wissenschaftler »Meteorolügen«.
Aber jetzt waren sie auf die Wissenschaft angewiesen. Der Wetterdienst warnte Georg Vogl: Eine Kaltfront schicke sich an, über Deutschland zu ziehen, Gewitterzellen am Rhein, das Ruhrgebiet schon unter Sturm. Am Rand der Alpen ballten sich bereits Wolken, die böse aussahen. Georg Vogl gab seinen Piloten Alarm.
Georg Vogl ist Kommandant der Rosenheimer Hagelflieger, einer Einheit mit einem zwiespältigen Ruf: In ihrer Heimat sind sie Helden, denen die Bauern vom Chiemgau bis nach Kufstein huldigen. In München schimpft man sie Scharlatane: Wie bitte, da wollen eine Handvoll Männer mit zwei Propellermaschinen Wetter machen können?
Die Hagelflieger hören das gar nicht gern. Sie wissen schon, was passiert, wenn so was in der Zeitung steht. Vergangenes Jahr rief jemand von den Kaltenberger Ritterspielen an, der etwas Sonne für König Artus wünschte, im Winter bat ein Witzbold um Schnee, und ab Frühlingsanfang rufen sie im Landratsamt an und wollen wissen, ob sie morgen grillen können. Im Landratsamt deswegen, weil die Hagelfliegerei in Rosenheim wie eine hoheitliche Aufgabe erledigt wird, in Zimmer 307, Georg Vogls Arbeitsplatz. Es gibt eine Kostenstelle, zwei Durchwahlen und einen Etat von 230 000 Euro. Sie machen kein Wetter. Sie fliegen, was sie den Salzburger Radarlotsen als »Hail Protection Mission; hot« anmelden – heiße Einsätze im Hagelschutz.
Die beiden dienstältesten Piloten sind Georg Vogl, 53, und Ludwig Schierghofer, 58. Seit 31 Jahren fliegen sie gegen Stürme an, und seit 31 Jahren hören sie zwei Vorwürfe: Hagelabwehr bringe nichts – und »dann heißt’s sofort: Ihr macht des nur, damit ihr lustig fliegen könnts«, sagt Ludwig Schierghofer.
Meist sind die Kritiker Meteorologen, die am Alpenkamm Hinterwäldler am Werk wähnen. »Wie unser spezieller Freund«, sagt Georg Vogl. Er meint Jörg Kachelmann, der über die Hagelabwehr schrieb, eine »Gewitterwolke wäre wahrscheinlich mehr beeindruckt, wenn man das Geld direkt in sie hineinstreuen würde«. Und in der Rosenheimer Lokalzeitung, dem Oberbayerischen Volksblatt, äußerte der Wetterexperte: Wenn schon Aberglaube, dann sollten die Leute in die Kirche gehen und gegen Hagel beten. Der Streit in den Leserbriefspalten tobte tagelang. Die Hagelflieger sind Spott gewohnt. Im Internet kursiert ein Clip, in dem sie wahlweise Hagelheimer Rosenflieger oder Rogelheimer Hasenflieger genannt werden, die das Mittel »Blödin« verspritzen.
Als Georg Vogl Alarm auslöste, machten sich seine Piloten auf den Weg zur Basis. Es war Mittwoch, auf dem Flugplatz Vogtareuth, einem einsamen Streifen Asphalt im Hinterland Rosenheims, zeigten die Uhren 12.05 Uhr Zulu-Zeit. Das ist ein Ausdruck für die koordinierte Weltzeit UTC. Im restlichen Inntal, das im Gegensatz zu den Hagelfliegern nicht an die Gepflogenheiten des internationalen Flugverkehrs gebunden ist, war es 14.05 Uhr. Das Unheil, das Vogl Alarm auslösen ließ, hatte nun einen Namen: Zelle 236. Auf dem Wetterradar zog die Zelle eine Schleppe an Symbolen hinter sich her, darunter eine kleine Pyramide – das Zeichen für Hagel, Warnstufe 1.
Diese Pyramide prangt auch auf dem Abzeichen der Hagelflieger, ein stolzes Logo, die bayerischen Farben, zwei Schwingen, ein Blitz in einer Wolke – und zwei auf dem Kopf stehende Pyramiden. »Sind leider verkehrt rum«, sagt Georg Vogl. Ein Druckfehler, nicht weiter schlimm. Sie fliegen fast nie in ihren Fliegermonturen, zum Ärger ihrer Ehefrauen, weil die Flecken vom Silberjodid so schwer aus der Kleidung herausgehen.
Silberjodid, das ist ihre Munition.
Zelle 236 brauchte nur zehn Minuten, um zu einer Stärke anzuwachsen, die auf dem Wetterradar mit der Farbe Rot gekennzeichnet wird: Sturmzelle, Stufe 3. Ihre Geschwindigkeit schwankte, doch plötzlich peitschte sie mit 88 Kilometern pro Stunde auf Rosenheim zu. In Vogtareuth startete die erste Maschine der Hagelabwehr, Rufzeichen D-GITY, dann die zweite, D-GOGO. Es war 14.41 Uhr Ortszeit.
Früher Nachmittag ist eine gute Zeit für Einsätze. Wenn Ludwig Schierghofer Bereitschaft hat und ein Gewitter ansteht, will er vom Wetterdienst wissen: »Kommt des noch vorm Sunset?« Sie streuen diese englischen Begriffe in ihre Sprache ein, weil sie oben am Himmel so sprechen, in Flieger-Englisch, das im gepfefferten Zungenschlag Oberbayerns klingt wie eine Parodie. Es ist aber ernst. Sie brauchen ihre Gewitter vor Sonnenuntergang. Der Flugplatz hat keine Beleuchtung, die Hagelflieger müssen spätestens Sunset plus 30 Minuten wieder daheim sein. Wenn der Hagel später kommt, kann die Hagelabwehr nicht mehr aufsteigen.
Georg Vogl, der am Steuerhorn des ersten Flugzeugs saß, stieg rasch auf eine Flughöhe von 1800 Metern und setzte Kurs nach Westen. Vor ihm schraubte sich eine Säule schwarzer Wolken in den Himmel, die sich in der Höhe weitete wie ein dunkler, den Horizont schluckender Schatten. Zelle 236. Sie stürmte gerade über die Isar.
Außer Georg Vogl arbeiten die sechs Piloten ehrenamtlich, auch Ludwig Schierghofer, ein Bild von einem Bayern, mit Schnauzbart und sachtem Bauchansatz, hauptberuflich Leiter der Abteilung Staatsschutz und Terrorismus im Bayerischen Landeskriminalamt.
»Die Natur spielt auf am andern Klavier«
Georg Vogl ist ein hagerer Mann, dessen Haar, obwohl noch füllig, längst ergraut ist. Er fährt ein Auto mit Allradantrieb, an dessen Rückspiegel ein indianischer Traumfänger hängt. Nicht, dass Vogl es nötig hätte. Er lebt seinen Traum. Als Bub schon ließ er sein erstes Modellflugzeug steigen, in Bad Aibling. Ihm war klar, dass er womöglich nie fliegen würde. Er war Brillenträger, und sein Vater war Bauer. Vogl verpflichtete sich bei der Bundeswehr, nichtfliegendes Personal. Bald hatte er einen Dauerauftragsschein, der ihn ermächtigte, bei Schulungsflügen an Bord zu sein. Als er die Bundeswehr verließ, hatte er zwar noch keine Pilotenlizenz, aber fliegen konnte er. Im Landratsamt suchten sie damals einen Hagelflieger.
Die beiden Maschinen der Hagelabwehr erreichten die Vorderfront von Zelle 236 gegen 15 Uhr Ortszeit. Sie waren allein dort oben. Gewöhnliche Flugzeuge meiden Gewitterzellen. Vogl suchte sich die Stelle, an der die Aufwinde am stärksten in den Wolkenturm stiegen, und zündete seine zwei Silberjodid-Brenner.
Die Methode heißt »Cloud Seeding«, das Impfen von Wolken. In der Theorie funktioniert sie so: Silberjodid lässt sich vom Aufwind ins Innere einer Wolke tragen, dorthin, wo jeder Niederschlag entsteht: Winzige Partikel wie Staub binden nach und nach Feuchtigkeit an sich, bis sie immer größer werdende Wassertropfen bilden, die irgendwann so schwer sind, dass sie zu Boden fallen. Im Fall von Hagel sind die Aufwinde so stark, dass sie die Partikel wie in einem Paternoster wieder und wieder in die Höhe katapultieren, wo sie gefrieren und zu Eiskörnern werden. In der Theorie impft man Hagelwolken mit Silberjodid, sättigt sie mit künstlichen Kondensationskeimen und erhält so viele kleine Graupel statt wenige große Hagelkörner. Das Problem ist die Praxis.
13.30 Uhr Zulu-Zeit. Zelle 236 war auf dem Wetterradar violett eingefärbt. Das ist die höchste Stufe. Eine Superzelle.
Die physikalischen und chemischen Prozesse im Inneren einer Gewitterwolke sind so komplex, dass sie immer noch nicht restlos erforscht sind. Wer es gut mit Hagelfliegern meint, gesteht ihnen zu, dass eine Wirkung möglich sein könnte, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle die richtige Menge Silberjodid aussäen. Die Mehrheit der Meteorologen bleibt dabei, dass ihre Wissenschaft nicht mit Konjunktiven arbeitet, sondern mit messbaren Fakten.
13.40 Uhr Zulu-Zeit. Zelle 236 hatte Verstärkung bekommen. Eine zweite Sturmzelle, südlich von Rosenheim. Blitze zuckten. Vogl flog Schleifen, immer am unteren Rand der Gewitterfront entlang, aber der Sturm war so stark, dass sich Vogl mehrmals bei einem prüfenden Blick auf die Tragflächen ertappte. Sie waren noch dran. Seine Brenner ließ er einfach laufen.
Um Zweifel an der Hagelabwehr auszuräumen, hatte das Landratsamt das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) beauftragt, die Wirksamkeit der Maßnahme zu prüfen. Sechs Jahre forschte man, 1993 stand das Ergebnis fest: Ein Effekt ist nicht wissenschaftlich nachweisbar. »Da gab’s aber an Aufstand«, sagt Ludwig Schierghofer. Obst- und Gartenbauvereine, die Obmänner des Bauernverbands und die Schafhaltervereinigung machten mobil. Sie sind die Bastion der Hagelabwehr, seit Rosenheim aus ihren Reihen die Schützen rekrutierte, die das Silberjodid einst mit Raketen in die Wolken schossen: 140 Mann, eine Abfanglinie aus 72 Abschussrampen, Gartenbauamtsrat Hermann Seibold befehligte persönlich. Manche Hagelraketen hatten die Sprengkraft einer Handgranate. Es gab Schützen, die hundert Raketen und mehr vorhielten, zum Teil in Schrebergärten. Eine Verschärfung des Sprengstoffgesetzes setzte dieser Form der Hagelabwehr 1973 ein Ende.
1993 nahm die Wut über die Studie der DLR solche Ausmaße an, dass man einen außerordentlichen Kreistag einberief. Eine Mehrheit von 52 Kreisräten beschloss, dass »bei aller Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung« der DLR die Hagelabwehr fortzusetzen sei. Es gab vier Gegenstimmen. Man hielt fest, die Hagelabwehr sei nach Möglichkeit weiter zu verbessern. Zu diesem Zweck wurde der »Verein zur Erforschung der Wirksamkeit der Hagelbekämpfung im Raum Rosenheim e. V.« gegründet. Die Geschäftsführung übernahm der Leiter der Hagelabwehr, Georg Vogl. Der Verein zählt mit über 8000 Mitgliedern zu den größten im Landkreis.
14.00 Uhr Zulu-Zeit. Zelle 236 hatte die zweite Sturmzelle geschluckt. Sie tobte mit Orkanböen über den Chiemsee, walzte Felder platt, legte Bäume um, deckte Häuser ab und riss Straßenschilder aus ihren Sockeln. Im Raum Rosenheim wurde Hagelschlag gemeldet, und auch im restlichen Deutschland richtete der Sturm ein Chaos an.
»Ein mieses Gefühl ist des«, sagt Ludwig Schierghofer. Hagel im Schutzgebiet, und sei es nach einem Sturm wie diesem, begreifen die Hagelflieger als persönliche Niederlage. Sie wissen, dass die Menschen in Rosenheim sie fliegen hören – ihre Maschinen haben einen tiefen, sonoren Ton, der sogar Stürme durchdringt. Manchmal ruft nach dem Sturm jemand an. »Überwiegend sagens: Wer weiß, was passiert wär, wenn ihr nicht geflogen wärt«, sagt Schierghofer. »Im Grunde ist es vergleichbar mit der Homöopathie. Es gibt Leute, die sagen, es hilft, und es gibt Leute, die sagen, des ist Hokuspokus. Und es gibt Leute, zu denen zähle ich, die sagen: Ja mei, bringt schon was – aber natürlich nicht, wenn man grad an Blinddarmdurchbruch hat.«
14.30 Uhr Zulu-Zeit. Die beiden Flugzeuge der Hagelabwehr folgten Zelle 236 ostwärts, bis die Tanks ihrer Silberjodid-Brenner leer liefen. Dann drehten sie ab.
»Da hast keine Chance«, sagt Georg Vogl. »Wenn ich eine Gewitterzelle aus dem Lehrbuch hab, alles wunderbar. Aber die Natur spielt auf am andern Klavier.«
14.55 Uhr Zulu-Zeit. Auf dem Flugplatz Vogtareuth landeten zwei Maschinen, D-GITY und D-GOGO. Sie tankten nur, Silberjodid und Flugbenzin. Dann stiegen sie sofort wieder auf, dem Unheil entgegen. Wenn Sturm ist, muss man sie hören.
Fotos: Bernd Auers