Mal wieder kann sich der Mensch die Natur zum Vorbild nehmen: Er muss dazu nicht einmal an einen Baum hämmern wie der Specht.
Der Mensch mag mit Überschall durch die Lüfte gleiten können, mit einem Specht aber kann er es auch nach Jahrhunderten technischer Evolution nicht aufnehmen. Der Vogel ist ein medizinisches Wunder, um seine Robustheit beneiden ihn Unfallforscher weltweit. Hunderttausende Menschen werden jedes Jahr wegen Kopfverletzungen in deutschen Krankenhäusern behandelt, rund 5000 sterben. Keine andere Verletzung führt so oft zum Tod. Jetzt soll die Anatomie des Spechts den Forschern, die an sicheren Helmen tüfteln, neue Anregungen geben. Denn Spechte schlagen ihren Schnabel so oft und mit solcher Wucht in die Rinde von Bäumen, dass sie eigentlich komplett hirngeschädigt sein müssten. Würde ein Mensch seinen Kopf mit solcher Heftigkeit gegen einen Eichenstamm schlagen, er würde tot zusammensinken.
Um dem Specht auf die Schliche zu kommen, nahm sich die chinesische Wissenschaftlerin Lizhen Wang vor, den Hackvorgang wissenschaftlich zu analysieren. Zwar sind Forscher dem Geheimnis bereits seit Jahrzehnten auf der Spur, doch ganz gelöst haben sie es noch nicht, und Wang hat noch ein weiteres, ein entscheidendes Detail entdeckt. Weil Spechte nicht gerade klassische Labortiere sind und es in einer Stadt wie Peking schwierig ist, einen zu fangen, dauerte das etwas. Erst nach einem halben Jahr fand die 29-jährige Doktorandin des Instituts für Biologie und Biomedizin einen Buntspecht direkt vor ihren Füßen – im Badachu-Park mit seinen acht alten buddhistischen Tempeln; der Vogel lag hilflos mit gebrochenem Flügel auf dem Boden. Wang nahm ihn mit ins Büro, päppelte ihn mit Mehlwürmern auf und installierte zwei Hochgeschwindigkeitskameras am Käfig.
Als Rindenimitat diente ein Sensor, der jeden Schnabelstoß in seine mathematisch-physikalischen Einzelteile zerlegte. Wang gab die Daten in ein Computerprogramm ein, simulierte die Bewegungen und kam zu der Erkenntnis, dass der Specht nur deshalb keinen Hirnschaden davonträgt, weil sein Kopf den perfekten Aufprallschutz bietet: Der untere Teil des Schnabels ist minimal länger als der obere. Damit nimmt er den Großteil der gewaltigen Energie beim Aufprall auf und leitet ihn vom Gehirn weg. Wangs Analysen bestätigten die Ergebnisse früherer Forschungen. Denn der Specht schützt sein Gehirn zusätzlich durch eine Art Anschnallgurt: Ein überlanger dünner und elastischer Knochen führt von der Zunge durch den unteren Schnabel und windet sich in einem U-Turn über den Schädel und die Stirn bis zum Ansatz des oberen Schnabels. Zudem federt eine schwammartige Knochenstruktur an einigen Stellen des Schädels die Stöße wie ein Helm ab.
In der Rechtsmedizin der Universität München sind Spechtforschungen bekannt. Dort waren Wissenschaftler um den Unfallforscher und Biomechaniker Steffen Peldschus bereits an der Entwicklung europäischer Normen für Schutzhelme beteiligt. Peldschus, 35, Brille, Typ Kumpel, kritisiert, Wangs Erkenntnisse seien nur teilweise neu und beantworteten die Frage aller Spechtforscherfragen nicht: Was passiert im Gehirn des Tieres im Moment des Aufpralls? Dessen Schädel hält immerhin das Tausendfache der Erdbeschleunigung aus – die meisten Menschen würden bereits beim 150-Fachen sterben.
Wang will auch dieses Mysterium entschlüsseln und bis dahin schon mal mit der Entwicklung von Helmen beginnen. Peldschus wagt einen ironischen Ausblick: Tragen Motorradfahrer bald einen gigantischen Schnabel am Visier? Vermutlich nicht. Denn entscheidend für den Aufprallschutz von Helmen ist weniger die Form als die Struktur. Lizhen Wangs wilder Buntspecht hat die Gefangenschaft nicht überlebt. Von ihm inspirierte Motorrad-, Fahrrad- und Sporthelme aber könnten Leben retten. Erste Firmen haben bereits bei Wang angefragt.
Nicht nur vom Specht kann sich der Mensch etwas abschauen. Auch Pinguin, Haifisch oder Klette haben uns zu nützlichen Erfindungen inspiriert. Was wir von der Natur lernen können - eine Bildergalerie.
Foto: DDP