»Nutzen Sie jeden Schrei, um ihr die Flasche zu geben!« Mit diesem ärztlichen Ratschlag wurde ich meiner Mutter als Neugeborenes auf die Brust gelegt. Ich war ein Frühchen, das kaum Gewicht mit auf die Welt brachte. Meine Mutter hielt sich an den Rat, fütterte mich, sobald ich den Mund aufmachte - und schon bald hatte ich runde Bäckchen. Mein Babyspeck wurde gehegt und gepflegt, schließlich hatte er mir das Leben gerettet. Außerdem ließ er mich niedlich aussehen. Beim Spaziergang durch den Kiez folgte einem neugierigen Blick in den Kinderwagen häufig ein verzücktes »Ooooh, süß, wie eine richtige Käthe-Kruse-Puppe!«
Aber irgendwann wird aus jedem Baby ein Kind, und was eben noch niedlich war, ist auf einmal unerwünscht. Plötzlich war ich nicht mehr die süße Puppe. Stattdessen rief man mir im Kindergarten »dicke, fette Arschbulette« hinterher. Ich war vielleicht vier Jahre alt, als ich zum ersten Mal hörte, wie meine Mutter von anderen Erwachsenen gefragt wurde, ob ich nicht etwas zu »pummelig« oder zu »kräftig« sei. Und ziemlich schnell fand ich mich dort wieder, wo über mein Gewicht schon einmal entschieden worden war: im Krankenhaus. In Unterwäsche sah ich dabei zu, wie der Arzt stirnrunzelnd einen Metallstift hin- und herschob, bis die Waage endlich im Gleichgewicht war.
Die Diagnose: Ich war ein Problem. Nicht für mich selbst, in meiner Welt drehte sich alles um Malen, Klettern und Lego. Aber in der Welt um mich herum ging es ab sofort nur noch ums Gewicht.
Meine Mutter erklärte meinen Körper zum Projekt. Erste Maßnahme: Ich wurde diätet. Die Formulierung verwende ich bewusst, denn geriebene Möhren und Äpfel mit Zitronensaft und Süßstoff hätte ich mir selbst nicht ausgesucht. Später sollten Punktepläne folgen, die mir fürs Abendbrot als beste Wahl eine Packung Tiefkühlspinat ermöglichten, aber dazu und zu den Erfolgsquoten solcher »Diäten« in einer anderen Folge mehr.
Zweite Maßnahme: Ich wurde versteckt. Meine Kleider und Röcke wurden aus dem Schrank verbannt mit der Begründung, dass meine Beine darin aussähen wie »Gurken im Glas«. Stattdessen sollte ich nun dunkle, weite Oberteile tragen, in denen mein runder Körper wie im eigenen Schatten verschwand. Für Familienfeste fiel die Wahl meiner Mutter dabei häufig auf etwas, das rund um den Ausschnitt Akzente wie einen Strassstein oder Pailletten hatte. Das würde »vom Bauch ablenken«, meinte sie. Dass ich Strass und Pailletten doof fand: egal. Dass ich Farben liebe: egal. Andere Kinder durften anziehen, was sie wollten, und sahen darin bisweilen recht abenteuerlich aus - ich hatte diese Wahl nicht. In meinem Fall sollte Kleidung dabei helfen, das Problem zu lösen.
In den Augen vieler konnte ich so nicht glücklich sein. Und durfte es auch nicht.
In der Grundschule gingen die Hänseleien weiter, daran änderte auch die weite Kleidung nichts. Mir dämmerte, dass Zuneigung etwas zu sein schien, das an ein bestimmtes bestimmtes Gewicht geknüpft war. Ich spürte diesen Zusammenhang, aber wirklich erklären konnte ich mir nicht, warum »dick« etwas derart Relevantes sein sollte, dass es sogar Macht darüber hatte, ob mich jemand gern hatte oder nicht. Lange bevor ich mich nur fürs Händchenhalten interessierte, kamen Erwachsene zu mir und sagten: »Du willst doch später mal einen Freund haben, der soll dich doch attraktiv finden!« Ich? Freund? Attraktiv? Ich wollte, dass mein selbst ausgedachtes Lego-Raumschiff im Wohnzimmer von der einen Wand bis zur anderen reichte. Das machte mich glücklich, da spielte es keine Rolle, ob ich Hosen mit Knopf oder mit Gummizug trug. Aber in den Augen vieler konnte ich so nicht glücklich sein. Und durfte es auch nicht.
Nicht mit diesem Körper! »Nie im Leben kannst du dich so wohlfühlen. Du machst dir doch was vor!« Ich habe nicht mitgezählt, wie oft ich diese Sätze gehört habe. Die Spannung zwischen meiner eigenen Wahrnehmung und der Welt, die mich umgab, wurde irgendwann so groß, dass ich mit 16 auf eigenen Wunsch in eine psychosomatische Klinik ging. Viele Jugendliche waren auf Station, um abzunehmen. Aber darum ging es mir nicht. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mein Ziel selbst klar in Worte fassen konnte: Ich suchte nach einer Hilfestellung dafür, wie man als dicker Mensch in einer dickenfeindlichen Welt leben kann.
Und ich fand sie. In der Therapie konnte ich zum ersten Mal in meinem Leben tun, worauf ich Lust hatte, ohne ständig von außen verunsichert oder abgewertet zu werden. Ich aß ohne Verbote, ich probierte Dinge aus, für die mir vorher der Mut gefehlt hatte, weil sie meinen Körper so sichtbar machten, wie zum Beispiel Bauchtanz, und ich begriff in den vielen Gesprächen: Mich glücklich zu fühlen, ist mein gutes Recht.
Während des sechsmonatigen Klinikaufenthalts verlor ich fast 30 Kilo. Doch das bedeutete nicht den Start in ein neues, glücklicheres Leben. Im Gegenteil. Das viele Lob, das ich für’s Abnehmen bekam, schlug in Druck um. Wieder sahen die Menschen um mich herum nur mein Gewicht. Der einzige Unterschied: Dieses Mal gefiel ihnen, was sie sahen. Die Kilos kehrten nach und nach zurück, aber mir machte das nichts aus. Denn die entscheidende Veränderung hatte sich in meinem Kopf vollzogen: Ich traute mich, ich selbst zu sein.
Als ich wieder zuhause war, fing ich an, Theater zu spielen und schloss mich einer Acapella-Gruppe an. Ich suchte die Bühne und die Aufmerksamkeit der Menschen. Ich hatte plötzlich keine Angst mehr, sichtbar zu sein, sondern begann, als dicker Mensch zu leben. Und davon werde ich in dieser Kolumne erzählen.
Protokoll: Sara Peschke