Warum bekommen Aktienkurse noch immer so viel Raum?

Wie der DAX oder der Euro ­stehen, bekommen alle mit, die sich für Nachrichten ­interessieren. ­Es wäre an der Zeit, endlich den Kampf gegen den Klimawandel so prominent abzubilden.

So schnell wirtschaftliche Entwicklungen sind, so langsam sind ökologische Einsichten.

Foto: Philoteus Nisch

Jeden Tag das gleiche Bild auf den Titelseiten der Zeitungen: drei schwarze Dreiecke, dazu ein paar Zahlen. DAX. Dow Jones. Euro. Mal geht’s runter, mal geht’s rauf. Immer direkt über dem Wetter­bericht. Auch im Radio die täglich selbe Frage, im Fernsehen sogar zur bes­ten aller Sendezeiten, direkt vor der Tagesschau: Was macht die Börse? Gegenfrage. Wer will das überhaupt wissen?

Rund 9,7 Millionen Deutsche besitzen Aktien oder Aktienfonds. Rechnet man sehr konservativ nur alle Kinder unter 14 Jahren aus der Bevölkerung raus, heißt das: Gerade mal jeder siebte Bundesbürger hat ein Depot und damit ein unmittelbares Interesse an solchen Nachrichten. Gehört man zu den anderen sechs Siebteln, kann man sich schon ab und zu fragen, wer von ­denen, die sich für die Kurse interessieren, auf diese drei Zahlen schaut, die in Zeiten, in denen die Börse im Nanosekundentakt Kurse abgleicht, am Morgen ja schon wieder Schnee von gestern sind.

Wozu also? Um zu zeigen, wie es der Wirtschaft insgesamt so geht? Dass die Entwicklung am Börsenmarkt ­ab­gekoppelt ist von der Realwirtschaft, ja deren Dynamik zuweilen diametral entgegenläuft, konnte man während des Lockdowns in den USA ­sehen: Während Hunderttausende in die ­Arbeitslosigkeit geschickt wurden, ­stiegen die Kurse des Dow Jones immer weiter.

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Ob man Aktien hat oder nicht, kann man selbst entscheiden. Ob man auf der Erde wohnt, nicht. Und besagte Erde liefert mittlerweile mit jedem Quartal eine schlechtere Performance ab. Grund dafür sind, um es mal paradox zuzuspitzen, die Aktienkurse. Betet man mit dieser isolierten News nicht im Grunde Milton Friedman nach, der vor 50 Jahren behauptete, die soziale Verantwortung von Unternehmen bestehe einzig und allein in der Steigerung ihrer Gewinne? So nackt, wie sie da stehen, wirken die Zahlen wie ein Relikt aus vergangenen, wachstumsseligen Zeiten. Was sogar stimmen könnte: Erstmals druckte die Süddeutsche Zeitung die Kurse am 21. November 2006 ab, zur Hochzeit des kollektiven, neoliberalen Taumels.

Wenn das Argument für die tägliche DAX-Nachricht aber lautet, man müsse nun mal die wichtigsten Tatsachen ­vermelden, müsste man dann nicht wenigstens auch jeden Tag drei Zahlen zur Erderwärmung und zur Klima­politik bringen? Diese Zahlen betreffen schließlich alle 83 Millionen Deutsche. Na gut, je jünger sie sind, desto größere Auswirkungen wird der Klimawandel auf ihr Leben haben. Aber ­dabei geht es eben nicht um kurzfristige Gewinne, sondern um unser aller ­Lebensgrundlagen und vermutlich auch darum, wie dieser Planet von uns auf viele Jahrtausende hin zerstörerisch umgestaltet wird. Durch ein auf Wachstum basierendes Wirtschaftssystem, dessen erfolgreichste Vertreter im DAX versammelt sind.

Bayer hat den Glyphosat-Produzenten und Genmanipulierer Monsanto gekauft. Das Baustoffunternehmen HeidelbergCement hat 2018 eigenen Angaben zufolge 76 Millionen Tonnen Kohlendioxid verursacht. Das ist fast halb so viel wie der gesamte Verkehr in Deutschland verursacht (165 Millionen Tonnen). Allein die Kraftwerke von RWE, Deutschlands größtem Stromproduzenten, haben 2018 ganze 118 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen – unter den fünf klimaschädlichsten Kraftwerken in Europa finden sich drei Braunkohlekraftwerke von RWE Power: Neurath, Niederaußem und Weisweiler stoßen mit 74,9 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr fast so viele Treibhausgase aus wie ganz Österreich.

Eine Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie ergab vor Kurzem, dass die Klimaziele der Bundesregierung schlichtweg nicht mit einer Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius vereinbar seien. Im Verkehr brauche es deutlich höhere CO2-Preise auf Kraftstoffe, der Ausbau erneuerbarer Energien müsse um den Faktor 2,5 erhöht werden. Laut dieser im Auftrag von Fridays for Future erstellten Studie darf Deutschland nicht erst 2050, sondern schon 2035 netto kein CO2 mehr ausstoßen.

Müsste man also nicht längst täglich vermelden, was konkret dafür ­getan wird, dieses so elementare wie riesengroße Ziel zu erreichen? Wie entschlossen beispielsweise der Ausbau von Solarpanels vonstatten geht (laut jener Studie muss er vier- bis sechsmal schneller geschehen als momentan)? Und müsste man nicht sogar den ökologischen Fußabdruck mit abbilden, den die im DAX versammelten Firmen gemeinsam verursachen? Schließlich sind es die großen Unternehmen, die für die meisten Emissionen verantwortlich sind: Schon 2017 zeigte der CDP ­Carbon Majors Report, der unter­suchte, welche Unternehmen wie viel CO2 produzieren, dass beeindruckende ­71 Prozent aller Treibhausgase weltweit von gerade mal 100 Unternehmen verursacht werden, die ihr Geld mit fossilen Brennstoffen verdienen – und von denen die allermeisten selbstverständlich an der Börse sind. Sie haben es mit in der Hand, ob die Energie­wende noch zu schaffen ist oder ob die Erderwärmung völlig außer Kontrolle gerät. Aber darum können wir uns ja dann kümmern. Eines Tages, in naher, wüster Zukunft. Fürs Erste steigen die Kurse mal wieder, und das ist natürlich aktientechnisch eine ganz wunderbare Nachricht.