Die Gewissensfrage

Ist es in Ordnung, sich einen zweiten Sitzplatz in der Bahn zu reservieren, um beim Reisen seine Ruhe zu haben?

»Als ich neulich mit der Bahn unterwegs war, habe ich mir eine zweite Reservierung zu meiner Fahrkarte und Reservierung gekauft, um den Platz neben mir frei zu halten. Einige Reisende ohne Reservierung waren darüber nicht sonderlich erfreut. Ich habe den Platz neben mir trotzdem standhaft verteidigt, schließlich habe ich diesen auch extra bezahlt und fühle mich absolut im Recht. Ist meine Vorgehensweise legitim?« Carsten H., Mainz.

Sie machen es mir wirklich nicht leicht. Für gewöhnlich versuche ich hier, so weit als möglich das Für und Wider der an mich herangetragenen Verhaltensweisen abzuwägen. Nur will mir in diesem Fall kaum etwas einfallen, was dafür spricht. Am ehesten vielleicht, dass ich den zugrunde liegenden Wunsch gut nachvollziehen kann: Vor die Wahl gestellt, ob ich in Ruhe mit etwas mehr Raum um mich sitzen möchte oder eng gepackt, würde ich zugegebenermaßen auch die Variante mit mehr Raum bevorzugen. Ich fürchte aber, das war es auch schon. Denn bereits mit dem nächsten Argument, dass Sie sich »absolut im Recht« fühlen, kann ich nur mehr wenig anfangen. Mich erinnert das an den Satz: »Das ist mein gutes Recht!«, für den ich die Faustregel aufgestellt habe, wann immer jemand diesen Ausdruck benutzt, ist es kein »gutes Recht«, sondern im Gegenteil ein schlechtes, nämlich das unhinterfragte Beharren auf einer formalen Rechtsposition.

Allerdings scheint schon die zweifelhaft. Den Beförderungsbedingungen der Bahn zufolge erlischt der Anspruch auf den reservierten Sitzplatz, wenn er nicht »durch den Reisenden 15 Minuten nach der Abfahrt … eingenommen wurde«. Nun scheinen Sie – zumindest im Zug – zwar ein vereinnahmendes, aber kein besonders einnehmendes Wesen zu haben, auf jeden Fall aber können Sie als eine Person nicht zwei Plätze »einnehmen«.

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Ganz abgesehen davon halte ich die Idee für abwegig, für vier Euro Reservierungsgebühr einen kompletten zusätzlichen Sitzplatz beanspruchen zu wollen. Würde man das weiterdenken, könnten Sie nach Ihrer Logik für 24 Euro plus den Preis einer einzigen Fahrkarte ein ganzes Abteil für andere Reisende blockieren und somit fast leere Züge durch die Gegend fahren lassen. Und spätestens hier zeigt sich unabhängig von allen rechtlichen Erwägungen die Problematik Ihres Handelns.

Doch würde ich sogar einen Schritt weiter gehen: Selbst wenn Sie formal das Recht dazu hätten, hielte ich es fast schon für menschenverachtend, der eigenen Annehmlichkeit zuliebe einem Menschen, der keinen anderen Platz findet, einen freien Sitz zu verweigern und ihn dadurch stehen zu lassen oder auf den Boden zu verweisen.

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Quelle:

600/A des Tarifverzeichnisses PersonenverkehrBeförderungsbedingungen für Personen durch die Unternehmen der Deutschen Bahn AG(BB Personenverkehr)Gültig vom 11. Dezember 2011 anNeuausgabeNachtrag 1 Gültig vom 01. Januar 2012 anHerausgeber: DB Fernverkehr AG, Stephensonstr. 1, 60326 Frankfurt am Main

Zu beziehen bei:DB Kommunikationstechnik GmbH, Medien und Kommunikationsdienste - Logistikcenter Kriegsstraße 136, 76133 Karlsruhe, Telefon: 0721 938-5965, Telefax: 0721 938-5509, E-Mail:  DZD-Bestellservice@deutschebahn.com

Illustration: Marc Herold