»Ich habe einen Bekannten, der wenige gute Freunde hat und sozialen Kontakt vermisst. Oft fragt er mich nach gemeinsamen Aktivitäten. Wenn es passt, sage ich zu. Aber nicht aus Freude an der gemeinsamen Zeit, sondern wegen seines Alleinseins. Ist es nicht unfair, wenn er eine Hoffnung auf Freundschaft entwickelt, während ich es eher als soziale Pflicht empfinde?« Anonym, München
Das Leben ist ein Kontinuum. Weniger, weil es für gewöhnlich zwischen Geburt und Tod frei von Unterbrechungen verläuft, sondern weil die meisten Aspekte, denen man im Laufe seines Lebens begegnet, in Ausmaß und Bedeutung auf einer kontinuierlichen Skala von klein bis groß auftreten können und vieles fließende Übergänge hat. Harte Kanten oder gar binäres Ja/Nein oder 0/1 sind hingegen meistens künstlich. Sie sprechen von einem Bekannten. Das ist weniger als ein Freund, und Sie wollen verhindern, dass Ihr Bekannter sich zu viel Hoffnung macht. Auch dabei sind die Grenzen fließend, und es dürfte eine ziemlich große Zahl an Fällen geben, in denen die Beteiligten ihr Verhältnis unterschiedlich einordnen. Und womöglich freut sich Ihr Bekannter auch einfach nur über Ihre Gesellschaft, ohne mehr zu erwarten.
Der zweite Punkt ist die Frage, warum man sich trifft. Sie scheinen es für besser zu halten, wenn man es mehr aus Freude tut als aus sozialen Erwägungen. Viele Religionen und Ethiken würden es genau anders herum bewerten. Dort steht die Zuwendung zum Nächsten deutlich höher als das eigene Vergnügen.
Vielleicht sehen Sie es auch als eine Frage der Offenheit. In dieser Hinsicht wäre es bedenklich, wenn Sie jemandem, den Sie nicht ausstehen können, ins Gesicht lächeln und Ihre tiefe Zuneigung versichern. Ansonsten gibt es auch da wieder viele Übergänge und Graubereiche, und man kann über Häufigkeit und Intensität der Begegnungen signalisieren, wie sie gemeint sind. Die hier betroffe-nen Aspekte, möglicherweise erhoffte Freundschaft, soziale Verpflichtung, Motivation und Offenheit, haben keine festen Stufen und stehen in Wechselwirkung. Die Übergänge sind fließend. Deshalb sehe ich die Antwort in Ihrer Formulierung »Wenn es passt, sage ich zu«: Sagen Sie zu, solange es passt.
Literatur:
Georg Simmel. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Gesamtausgabe Band 11). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, S. 395 – 405
Eine schöne Sammlung von philosophischen Texten zur Freundschaft findet sich in dem von Klaus Dieter Eichler herausgegebenen Buch »Philosophie der Freundschaft«, Reclam Verlag 1999
Zum Unterschied zwischen Handeln aus Pflicht und pflichtgemäßen Handeln (dem Handeln aus Neigung) siehe die bekannte Stelle in:
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe S. 397
Online aufrufbar hier
Dies hat Friedrich Schillers Kritik in seiner bekannten spöttischen Xenie kritisiert:
Gewissensskrupel
Gern dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.
Decisum
Da ist kein anderer Rat; du musst suchen, sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.
Online zum Beispiel hier
Schillers Kritik wird wiederum in der Kantforschung kritisiert, siehe zum Beispiel: Otfried Höffe, »Gerne dien ich den Freunden, doch tue ich es leider mit Neigung...«: Überwindet Schillers Gedanke der schönen Seele Kants Gegensatz von Pflicht und Neigung? Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 60 (2006), S. 1-20
Zu den Grenzen der Offenheit (und damit Aufrichtigkeit) siehe u.a. die interessanten Ausführungen im Kapitel 16: Die Aufrichtigkeit in: André Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 3. Auflage 2010, S. 229ff