Rückschritt ins Mittelalter

Selbst nach Inzest und Vergewaltigung sollen in mehreren US-Bundesstaaten künftig Abtreibungen verboten sein. Während viele noch protestieren, kommen bereits die ersten Fälle ans Licht, in denen die neuen Gesetze unmenschliche Folgen hätten.

Beim »March for Reproductive Freedom« demonstrieren am 19. Mai zahlreiche Menschen in Montgomery, Alabama, gegen die rigide Abtreibungsgesetzgebung in dem US-Bundesstaat.

Foto: Reuters

Es ist kein hypothetischer Fall: Ein 11-jähriges Mädchen in Ohio hat vorletzte Woche einen 26 Jahre alten Mann wegen Vergewaltigung angezeigt. Sie hat bei der Polizei zu Protokoll gegeben, er habe sie mehrmals vergewaltigt, und sie ist nun von ihm schwanger. Ihr Rechtsanwalt sagt, dass sie das Kind nicht bekommen will. Sie sei weder körperlich noch emotional dazu in der Lage. Aber Ohio zählt zu den sieben amerikanischen Bundesstaaten, die gerade neue Anti-Abtreibungsgesetze verabschiedet haben, sogenannte »Herzschlag-Gesetze«.

Fünf bis sechs Wochen nach Beginn der Schwangerschaft, also noch bevor die meisten Frauen überhaupt merken, dass sie schwanger sind, sei ein Herzschlag des Fötus zu hören – deshalb könnten ab dem Zeitpunkt keine Abtreibungen mehr erlaubt werden. Auch nicht im Fall einer Vergewaltigung. Auch nicht, wenn die Schwangere erst elf Jahre alt ist. Selbst dann nicht, wenn es sich um Inzest handelt. Das Gesetz ist noch nicht in Kraft getreten, aber der Gouverneur von Ohio, Mike DeWine, hat es schon unterzeichnet und gelobt: »Eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung ist es, die verwundbarsten unter uns zu schützen, diejenigen, die keine Stimme haben.«

Neben Ohio haben auch Alabama, Georgia und vier weitere amerikanische Staaten gerade die Abtreibungsgesetze massiv verschärft. Alabama etwa droht Ärzten, die Abtreibungen vornehmen, mit einer Gefängnisstrafe bis zu 99 Jahren, Texas diskutiert gerade sogar die Todesstrafe. Das Ziel: den Obersten Gerichtshof zu einer Entscheidung zu bewegen, Abtreibungen grundsätzlich zu verbieten. 

Was aber sagt das über einen Staat aus, wenn die Strafen für Vergewaltigungs-Opfer, die das Kind nicht bekommen wollen, von Vergewaltigungen soviel höher sind als die Strafen für die Vergewaltiger? Wenn Politiker nur die ungeborenen Leben zu den »verwundbarsten« und schützenswerten zählen, aber nicht die Leben der Mädchen und Frauen, die diese gebären sollen? Wenn Richter in Extremfällen sogar eher die Frauen zur Verantwortung ziehen, als die Väter und Täter?

Ich bin als Katholikin aufgewachsen und kann durchaus nachvollziehen, dass Christen ungeborenes Leben schützen wollen. Ich respektiere es, wenn jemand davon überzeugt ist, ein Mensch entstünde schon im Moment der Zeugung. Dann muss derjenige aber auch das geborene Leben schützen, mit genau dem gleichen Eifer und Engagement.

Wenn sich die konservativen Christen wirklich um die verwundbarsten Leben sorgt, warum haben dann ausgerechnet diese konservativen Staaten wie Alabama und Georgia die schlimmsten Kindersterblichkeitsraten? Und die schlimmste Müttersterblichkeit?

»Wenn Amerikaner Mütter lieben, warum lassen wir sie sterben?«, fragte New York Times-Kolumnist Nick Kristof. Tatsächlich geht es Müttern in Amerika wesentlich schlechter als in anderen Ländern. Fast überall in den westlichen Industrienationen hat sich die Müttersterblichkeit in den letzten 25 Jahren halbiert; in Amerika hat sie sich dagegen fast verdoppelt. Zum Vergleich: In Deutschland sterben etwa vier von 100.000 Frauen als Folge von Komplikationen bei der Schwangerschaft oder Geburt, gerade in konservativen Bundesstaaten wie Texas dagegen mehr als 40. Bei den Einkommensschwachen ist die Rate noch höher. Hallo Texas, hören Sie mich? Houston, wir haben ein Problem.

Warum setzen sich genau die gleichen Abgeordneten so vehement für die Abschaffung der allgemeinen Krankenversicherung ein, die werdenden Müttern die Schwangerschaftsvorsorge bezahlt und den Kindern die ersten Arztbesuche? Alabama ist übrigens auch der Staat mit der höchsten Rate von Gebärmutterhalskrebs in Amerika – weil dort gerade Frauen mit niedrigem Einkommen erschwerten Zugang zur Gesundheitsvorsorge haben. Stattdessem werden Frauen, die Fehlgeburten erleiden, mit juristischen Schikanen und Gefängnis bedroht, vor allem wenn die Fehlgeburten spät in der Schwangerschaft passieren. 

Fast die Hälfte aller Schwangerschaften in Amerika ist ungewollt. Wer nicht will, dass Frauen abtreiben, muss dafür sorgen, dass sie Zugriff auf kostenlose oder erschwingliche Verhütungsmittel haben. Warum erlauben die amerikanischen Gesetzesmacher, dass die Krankenversicherungen von christlichen Arbeitgebern aus »religiösen Gründen« Verhütungsmittel nicht erstatten, wohl aber Viagra? Und warum liegen ausgerechnet die konservativsten Staaten bei der Schulbildung so weit hinten? Schützt die Embryos, aber lasst die Kinder ohne Bildungschancen?

Wer Frauen dazu ermutigen will, selbst nach einer Vergewaltigung das Kind auszutragen, darf die Mütter anschließend nicht dazu zwingen, sich das Sorgerecht mit ihrem Vergewaltiger zu teilen

Und, vor allem, wenn Politiker Abtreibungen selbst nach Vergewaltigungen verhindern wollen, warum knöpfen sie sich dann nicht die Vergewaltiger vor? Wenn sie glauben, dass drakonische Strafen abschreckend wirken, warum sollen dann nur die Ärzte hart bestraft werden, aber nicht die Vergewaltiger? Sind die nicht für die Entstehung der Babys verantwortlich?

Der konservative Abgeordnete Barry Hovis sagte bei der Debatte über das geplante Abtreibungsverbot in Missouri letzten Freitag, dass er sich bei dem Thema gut auskenne, weil er es zu seiner Zeit als Polizist mit Vergewaltigungsfällen zu tun hatte, aber dass »die wenigsten davon Fremde waren, die aus den Büschen sprangen. Das waren vielleicht ein oder zwei von 100 Fällen«, sagte er. »Die meisten waren Date Rapes oder einvernehmliche Vergewaltigungen (›consensual rapes‹).« Einvernehmliche Vergewaltigungen? Ein Raunen ging durch den Raum. Sofort stand die Abgeordnete Raychel Proudie auf und sagte sichtlich erschüttert, einvernehmliche Vergewaltigungen gebe es nicht. Der öffentliche Aufschrei war so groß, dass Hovis später zurückruderte und sagte, er habe sich versprochen und eigentlich sagen wollen: »einvernehmlich UND Vergewaltigung«, obwohl das grammatikalisch keinen Sinn macht. Er tritt damit in die Fußstapfen seines ehemaligen Kollegen Todd Akin, der zu seiner Zeit als republikanischer Abgeordneter in Missouri vor einigen Jahren sagte, bei einer »echten Vergewaltigung« (»legitimate rape«) würden Frauen nur ganz selten schwanger, »weil der weibliche Körper Wege findet, das Ganze abzuschalten«.

Diese Mythen halten sich hartnäckig in den Köpfen männlicher Politiker. Und es waren tatsächlich 25 ausschließlich männliche, weiße Politiker, die im Senat von Alabama für den Abtreibungsbann stimmten. Keine Frau stimmte dafür (auch wenn das Gesetz anschließend von einer Gouverneurin unterzeichnet wurde). »Wir reden über 25 weiße Männer, die gerade über Gesundheits- und Lebensentscheidungen von Frauen abgestimmt haben«, sagte Leana Wen, die Präsidentin der gemeinnützigen Familienplanungsorganisation Planned Parenthood. Ausschließlich Männer, die nie in die Lage kommen, im eigenen Körper neun Monate lang das Resultat einer Vergewaltigung in sich tragen zu müssen. Denn, auch das ist wahr: Die Staaten mit den strengsten Abtreibungsgesetzen haben die wenigsten Frauen in der Politik.

Wer Frauen dazu ermutigen will, selbst nach einer Vergewaltigung das Kind auszutragen, darf die Mütter anschließend nicht dazu zwingen, sich das Sorgerecht mit ihrem Vergewaltiger zu teilen. Nicht dass ein Straftäter wie Chris Mirasolo in Michigan eine 12-Jährige entführt, mehrfach vergewaltigt, schwängert und dann für die Straftat sechs Monate bekommt, nur um kurz nach seiner Entlassung eine 14-Jährige zu vergewaltigen. Trotzdem hat ihm das Gericht Umgangsrecht mit seinem bei der Vergewaltigung gezeugten Sohn gewährt. Wahre Geschichte, aber kein Einzelfall.

Wer Leben schützen will, darf das ungeborene nicht für wichtiger halten als das schon Geborene.

70 Prozent der Amerikaner sind Umfragen zufolge dafür, zumindest bei Vergewaltigung und Inzest Abtreibungen zu erlauben. Die sogenannte »Pro-Life« Bewegung aber, die seit Trumps Wahlsieg massiv an Einfluss gewonnen hat, meint, das Leben beginne nun mal mit der Zeugung, und das ändere sich nicht, wenn die Zeugung mit Gewalt erzwungen wurde. Weil Trump zwei »Pro-Life«-Richter in den Obersten Gerichtshof hievte, wollen sie die Gunst der Stunde nutzen. Aber zu welchem Preis?

In Argentinien machten gerade zwei Fälle Schlagzeilen, in denen ein 11-jähriges und ein 12-jähriges Mädchen dazu gezwungen wurden, nach Vergewaltigungen ihre Schwangerschaften auszutragen. Sie wurden in der 23. beziehungsweise 24. Schwangerschaftswoche durch Kaiserschnitt entbunden, beide Babys starben. So sieht es aus, wenn Fanatiker »Leben schützen«.